Nein, das war ich nicht. Ich nicht. Das lasse ich mir nicht einreden: Für meine Sünden gestorben. Nie im Leben.
Gut, ich gebe es ja zu: Niemand hat schließlich eine weiße Weste. Ein paar dunkle Flecken gibt es wohl immer. Irgendwo hat doch jeder eine Leiche im Keller. Nicht wörtlich – hoffe ich zumindest – aber doch bildlich: Es gibt sie, die dunklen Seiten in uns. Ich nehme mich da nicht aus.
Aber im Ernst: Auch wenn ich kein Engel bin, so bin ich doch auch kein Teufel. So schlimm, dass jemand für mich den Kopf hinhalten müsste, nein, so schlimm bin ich nicht. Schon gar nicht so schlimm, dass Jesus dafür auf solche grausame Weise sterben müsste.
Was habe ich denn getan? Nun gut, hier und da mal eine kleine Unwahrheit, nicht direkt gelogen, sondern die Wahrheit ein wenig zu meinen Gunsten verdreht oder einfach auch nur das Unangenehme verschwiegen. Und sicherlich passiert es manchmal auch, dass blinder Eifer in lauten Zorn umschlägt. Ja, meine Ungeduld, die gehört auch zu meinen Schwächen. Sünde würde ich das nun nicht gerade nennen. Ich kann es halt schlecht ertragen, wenn sich die Dinge unendlich lange hinziehen. Dann nehme ich die Sache lieber selber in die Hand.
Jeder von uns will doch leben. Und das geht nicht, ohne dass es hin und wieder zu Verletzungen kommt. Man darf sich schließlich ja nichts gefallen lassen. Man darf nicht immer nur einstecken, sondern muss auch austeilen können. So ist das nun mal in unserer Welt. Da braucht man hin und wieder auch Ellbogenmentalität und eine harte Linie. Steht das nicht auch in der Bibel: Gelobt sei der Herr, der meine Hände den Kampf gelehrt hat, meine Finger den Krieg (Ps 144, 1)?
Na bitte, da haben wir es doch. Wer sich mit mir anlegt, der bekommt das auch zu spüren. Ich teile aus, nehme kein Blatt vor den Mund. Gut, wenn ich mich dann mal so richtig in Rage geredet habe, dann mache ich auch schon mal andere fertig. Viel öfter passiert mir das auf verstecktem Wege: Ich rede über andere schlecht, damit ich besser dastehe. Hier und da eine kleine spitze Bemerkung, ein kleiner verbaler Giftpfeil, gut platziert – das trifft.
Und dennoch: Ich bin gewiss kein großer Sünder vor dem Herrn. Da gibt es doch ganz andere Kaliber: Hier, die Großen, die da oben, die die Macht haben und sie doch nur missbrauchen, um uns kleinen Leuten das Geld aus der Tasche zu ziehen. Wir, die Ehrlichen, sind am Ende doch immer die Dummen. Kein Wunder, dass wir uns hier und da mal ein wenig vom großen Kuchen gönnen wollen. Ich nenne das nicht Steuerbetrug, sondern ausgleichende Gerechtigkeit. Ich nehme mir nur, was mir zusteht.
Und überhaupt: Reden nicht gerade die von Moral und Tugend, die doch am meisten zu beichten hätten? Die Kirche? Na, kommen Sie! Kreuzzüge, Hexenverbrennung und von den schlimmen Taten der jüngsten Zeit wollen wir mal erst gar nicht reden! Und die erzählen mir, dass Jesus da für mich am Kreuz hängt!
Nie und nimmer! Ich war das nicht. Ich habe zwar meine kleinen Fehler, aber diesen Mord lasse ich mir nicht anhängen.
Und auch das muss mal gesagt werden: Wenn Gott mit meinen Fehlern Schwierigkeiten hat, dann soll er sich gefälligst bei mir melden. Dann mache ich das mit ihm beim Joggen im Wald aus, von Mann zu Mann. Da brauche ich keine Kirche. Und auch keinen Jesus, der für mich gekreuzigt wird. Was ist das überhaupt für ein grausamer Gott, der seinen Sohn für meine Sünden ans Kreuz schlagen lässt?
Wo gibt es denn so etwas? Der schlachtet sein Kind ab, weil ich böse war? Der Sohn ist doch unschuldig! Wenn schon Strafe für meine kleinen und größeren Sünden notwendig ist, dann kläre das doch bitte mit mir!
Schließlich gilt: Selbst ist der Mann – und auch die Frau. Hilf dir selbst, sonst hilft dir keiner. Steht ja auch im Evangelium, zumindest so ähnlich: Anderen hat er geholfen, sich selber kann er nicht helfen. (Mt 27,42), haben die Leute unter dem Kreuz gesagt.
Andererseits: Warum macht er das? Ich meine: Dieser Jesus, warum tut er das? Er hat Blinde geheilt, dem Teufel widerstanden, Lahmen auf die Sprünge geholfen, Wunder gewirkt, selbst Tote erweckt und Geister ausgetrieben. Bei seiner Geburt standen Armeen von Engel am Himmel und lobten Gott – und nun hängt er da so völlig machtlos an diesem Balken und stirbt grausam vor sich hin. Warum wehrt er sich nicht?
Ich an seiner Stelle hätte das nicht getan: Wenn du Gottes Sohn bist, dann steige herab vom Kreuz. Genau das hätte ich getan: Ich hätte ihnen gezeigt, wo der Hammer hängt. Schon viel früher natürlich, hätte es erst gar nicht so weit kommen lassen. Ich hätte die himmlischen Heere gerufen und zum göttlichen Kampf geblasen! Ich hätte mich nicht aufs Kreuz legen, mich nicht festnageln lassen.
Gut, die Botschaft der bedingungslosen Liebe Gottes wäre damit am Ende doch nicht durchgekommen. So gesehen hätte mein dramatischer Endkampf die Botschaft meines Lebens zerstört.
Aber dafür hätte alle Welt meine Macht am eigenen Leib gespürt. Alle hätten sich voller Furcht vor mir und meinen Engeln niedergeworfen in den Staub der Erde, und sie hätten mich angebetet. Zwar nicht aus Liebe, aber immerhin angebetet. Sie hätten erkannt, dass ich Gottes Sohn bin, und darum ging es doch, oder?
Mal ehrlich: So hätten Sie doch wohl auch reagiert? Sicher: Manchmal hält man im Leben auch noch die rechte Wange hin, wenn einer einen schon auf die linke schlägt. Aber das Kreuz? Nein, da hört doch der Spaß auf! Da hätten Sie sich doch auch gewehrt! Das lässt doch niemand mit sich machen!
Und doch stimmt es mich nachdenklich: Am Ende sagt der römische Hauptmann angesichts dieses Todes ausgerechnet über den Gehenkten in der Mitte, über Jesus: Dieser Mensch war Gottes Sohn.(Mk 15,39)
Was hat ihn davon überzeugt? Dass er nicht herabgestiegen ist vom Kreuz? Dass er nicht sich selber geholfen hat?
Vielleicht ist das die Ursünde des Menschen, die größte überhaupt: Diese ewige Selbstverliebtheit: Ich will, ich bin, ich kann, ich muss, ich habe, ich werde...ich, ich und immer wieder ich. Nicht auf andere vertrauen, nicht auf andere hören, nicht auf den Menschen an meiner Seite, schon gar nicht auf Gott: Immer nur ich, ganz selten nur wir, ihr oder du.
Dieses ewige Spiel der Menschheit, in den Tiefen des Alltags immer vorhanden und fest verankert in unseren Herzen: Dieser Wunsch nach Anerkennung, nach immerwährender Selbstbestimmung und Selbstbehauptung, frei zu sein von allen Schranken. Anstrengend ist das, ermüdend. Sich immer wieder selbst zu helfen, damit man gut dasteht. Sich nur auf sich selber zu verlassen, weil man sich sonst verlassen glaubt.
Es ist die Ursünde schlechthin: Da gibt es nur mich, keinen Gott und keinen anderen. Der Mensch kreist um sich selber, versucht, sich das innere und äußere Paradies zu schaffen, rackert sich dafür ab und kämpft dafür mit allen Mitteln.
Bei Jesus ist das anders: Dein Wille geschehe. Jesus opfert seine Macht als Gottessohn und begibt sich in die Ohnmacht des Kreuzes. Doch das Kreuz ist zugleich die tiefste Hingabe an Gott. Ich lasse mich festnageln, ich gehe durch Leiden und Tod – im Vertrauen auf Gott. Der Herr ist meine Kraft und mein Schild, mein Herz vertraut ihm (Ps 28,7).
Seit Anbeginn fällt uns Menschen dieses Vertrauen schwer. Unsere Geschichte und unsere Welt würden anders aussehen, wenn wir dieses Gottvertrauen auch im Angesicht des Kreuzes hätten. Dieser fehlende Mut, dieser fehlende Glaube, ist die Sünde, die alles andere nach sich zieht. Denn sie bringt den Stolz hervor, die Eitelkeit, die Überheblichkeit und den naiven Glauben, in allen Lagen mein eigener Herr sein zu müssen.
Jesus hat dieses Gottvertrauen vorgelebt, bis in den Tod hinein. Er hat sich nicht selber geholfen, und ist nicht vom Kreuz herabgestiegen. Damit auch wir an den Kreuzen unseres Lebens aushalten, damit auch wir nicht unsere Macht ausspielen, damit auch wir dem Leiden nicht immer nur ausweichen, nicht nur auf unsere Kraft und unser Können, sondern auf Gottes Macht und Liebe vertrauen. Dafür ist er gestorben, grausam, brutal, unter Schmerzen und verzweifelt, für Sie - und auch für mich.