Mittwoch, 17. April 2013

Reden ist Silber, Schweigen ist Gold


Vor kurzem ist sie mir wieder aufgefallen: Silbern ist die Medaille, die mir damals verliehen wurde. Als Anerkennung und Dank für 10 Jahre aktiven Dienst in der Notfallseelsorge. Zusammen mit einem netten, erfahren Kollegen, wurde mir diese Ehre zuteil. Der Leiter der Notfallseelsorge hat mir dazu ein Buch mit einer Widmung geschenkt. 

Die Worte sind mit bedacht gewählt und spiegeln den Weg wieder, den wir gemeinsam gegangen sind: In alle den Jahren mussten wir uns erst einmal finden. Es gab Fragen zum Konzept, zum Dienst, zu den Einsätzen. Wir waren und sind noch immer ein bunter Haufen von Menschen ganz unterschiedlicher Herkunft. Notfallseelsorge ist Seelsorge im Grenzbereich zwischen Leben und Tod. Grenzbereiche fordern den ganzen Menschen und da bleibt nichts im Verborgenen. Wir mussten uns in all den Jahren auch immer wieder ganz neu aneinander gewöhnen: Konfessionelle Vorurteile, menschliche Unzulänglichkeiten, Vorlieben, Stärken und Schwächen. Das führte zwar nie zu ernsten Konflikten, aber in den zehn Jahren gab es doch auch immer wieder Gesprächsbedarf und ein sensibles Suchen nach dem gemeinsamen Weg. Ich durfte dabei viel lernen. Zum Beispiel, dass Reden Silber und Schweigen Gold ist.
Nicht Schweigen aus Angst oder Unterwürfigkeit, wohl aber Schweigen, um erst einmal besser hören zu können. Das gilt zumindest im Umgang mit den Kollegen - auch wenn mir das nicht immer gelingt.

Und auch in den Einsätzen ist Schweigen oftmals der goldene Weg: Oft genug habe ich beim Eintreffen am Einsatzort diese hohe Erwartung gespürt: Mitten im betroffenen Schweigen, in der Sprachlosigkeit und dem Ringen um Worte erwartet man vom eintreffenden Notfallseelsorger nun den erlösenden Satz, das Sprachwunder, das alles löst und irgendwie hilft. Die Versuchung ist groß: Es ist leichter, auch im Angesicht von Tod und Leid den anderen mit Worten zuzuschütten, die gut klingen, aber nicht im Herzen ankommen. Es ist viel schwieriger, das Unsagbare mit auszuhalten, das schreckliche Schweigen mitzutragen. Das erscheint so nutz- und wirkungslos. Aber dieses Schweigen sagt mehr als tausend Worte: Da ist jemand einfach nur da. Mitten in Leid und Not bin ich nicht allein. 

In den zehn Jahren habe ich inzwischen mehr als 100 Einsätze erlebt. Bis heute versage ich mir jede Routine. Gewiss: Man sammelt Erfahrung. Nicht jeder Einsatz fordert einen neu heraus, aber nicht jeder verlangt nach ganz neuen Strukturen. Aber wenn mich eines Tages ein Einsatz überhaupt nicht mehr berühren würde, dann wäre es an der Zeit, aufzuhören.

Dass wir inzwischen über alle Konfessionsgrenzen hinweg zueinander gefunden haben (und uns noch immer finden), uns gegenseitig mit unseren Stärken und auch mit unseren Eigenheiten wertschätzen, durfte ich vom mitgeehrten Kollegen erfahren. Er machte mir das schönste Kompliment: Mit dir würde ich jeden Einsatz noch einmal fahren.

Danke - ich mit dir auch!

Samstag, 30. März 2013





Karfreitag: Wo stehst du?

Fragt man unsere Firmbewerber, was sie mit dem Karfreitag verbinden, dann kommt u.a. die Frage: Warum feiern wir diesen Tag eigentlich? Die Spannung ist doch weg! Alle Jahre wieder der gleiche Ablauf: Palmsonntag. Gründonnerstag. Karfreitag und Ostern. Wir wissen doch schon, wie es ausgeht: Ja, Jesus wird wie ein König in Jerusalem empfangen. Ja, Jesus feiert das letzte Abendmahl und danach wird er von Judas verraten. Und ja, wir wissen, dass er dann am Kreuz stirbt. Und welche Überraschung: An Ostern steht er von den Toten auf. Alle Jahre wieder dieselbe Inszenierung. Gut, hier und da ändern sich ein paar Details in der Darstellung, aber das Drehbuch bleibt doch immer das gleiche.
Was auch daran liegt, dass das Drehbuch 2000 Jahre alt ist und heilig. Die Vorlage für das jährlich wiederkehrende Drama der Kar- und Ostertage steht in den  Evangelien, liegt also nicht in unserer Hand.
Also bleibt auch der Ablauf gleich: Jesus wird auch heute nicht vom Kreuz herabsteigen. Keine himmlischen  Heere werden Pilatus und den Hohen Rat in Jerusalem festsetzen. Und, so traurig es ist, auch heute werden wir den Tod des Herrn bedenken und noch nicht die Auferstehung. Aber seien Sie getröstet: Die Auferstehung werden wir morgen Abend feiern. Ganz sicher. Versprochen.
Das ist nämlich das Geheimnis dieser Tage: Sie sind zuverlässig, sie sind planbar. Gott sei Dank ist Gott berechenbar. Zumindest wenn es um Tod und Auferstehung geht. Und so müssen wir uns nicht wie an manch anderen Stellen mit Regisseuren und anderen Künstlern auseinandersetzen, die vielleicht um der Provokation, der Modernisierung der Botschaft wegen oder auch nur weil sie es toll finden, die Geschichte abändern wollen.
Nein, es bleibt wie es ist, oder besser: Es bleibt, wie es war. Seit fast 2000 Jahren eben, seit diesem ersten Einzug in Jerusalem, seit diesem ersten letzten Abendmahl, seit diesem ersten Karfreitag. Es bleibt wie es war. Und morgen wird es eben so sein, wie es war: Auf den Tod des Herrn folgt die Auferstehung.

Die Frage ist berechtigt: Wenn wir das Ergebnis doch kennen, warum dann jedes Jahr dieselbe Aufführung? Dahinter mag auch eine ganz ernsthafte Anfrage liegen: Können wir diese Tage überhaupt innerlich mitvollziehen? Kann man tatsächlich am Todestag Jesu trauern, wenn man doch um Ostern weiß? Oder noch provokanter gefragt: Werden die Schmerzen Jesu am Kreuz nicht erträglicher im Licht der Osterkerze?

Doch hier liegt eine Verwechslung vor: Das Evangelium ist kein Krimi. Ich kenne das zu gut: Da hat man über 600 Seiten Spannung vor sich und manchmal juckt es einen in den Fingern, einfach die letzte Seite zu lesen und zu schauen: Wer überlebt, wer ist der Mörder. Wer das allerdings tut, verdirbt sich den Spaß am Buch.
Anders beim Evangelium: Auch wenn wir den Ausgang wissen, so ist das Ganze jedes Jahr neu. Der Unterschied zum Krimi liegt darin, dass das Evangelium jedes Jahr neu gefüllt wird. Wir sind keine Leser, keine passiven Zuschauer, keine Besucher eines Passionsspieles. Jedes Jahr sind wir ganz aufs Neue und geheimnisvoll in diese dramatischen Tage verwoben. Wir kennen die dramatis personae, die handelnden Personen in diesem heiligen Spiel: Die Menschen auf den Straßen Jerusalems, die heute Hosanna! und morgen Kreuzige ihn! rufen. Wir kennen die Namen der Hauptakteure: Judas, der den Herrn ausliefert, Petrus, der mit dem Schwert dreinschlägt und seinen Herrn dreimal verrät, Pilatus, Kajaphas, Johannes, der als einziger mit Maria unter dem Kreuz aushält, Josef von Arimathäa, der Jesus bestattet, der Hauptmann, der unter dem Kreuz Jesus als den Sohn Gottes erkennt, die Spötter unter dem Kreuz, die Jesus selbst in seinem Leiden kein Erbarmen entgegenbringen. Wir wissen um die zwei, die mit dem Herrn gekreuzigt werden, einer, der ihn verspottet, einer, der in seinem Sterben alle seine Hoffnung auf Jesus setzt. Alle diese Personen und Figuren sind uns vertraut. Vielleicht nicht in allen Details, aber in den Grundzügen.

Und doch fühlt sich jede Karwoche anders an. Denn jedes Jahr finden wir unseren eigenen Platz in diesem heiligen Spiel. Jedes Jahr müssen wir uns entscheiden, wo wir stehen. Denn wir feiern keine Erinnerung an vergangene Tage. Nicht rührselig und sentimental: Weißt du noch, damals, als Jesus verhaftet und gekreuzigt wurde?
Damals? Nein, heute! Unser Feiern ist Gegenwart. Wir sind mittendrin. Vergangenheit und Gegenwart werden eins. Wir wiederholen nichts, aber wir stehen mitten im Evangelium. Und deshalb Jahr für Jahr der gleiche Text und doch anders: Denn Jahr für Jahr muss jeder seinen Platz in diesem Text finden, ihn mit seiner Person füllen und ihm Leben geben.

Wo stehst du? Wer bist du heute? Hängst du neben Jesus am Kreuz und schreist mit ihm deinen Schmerz zum Himmel empor? Voller Spott oder voll Vertrauen, heute noch mit ihm ins Paradies eingehen zu können? Bist du Maria, bist du Johannes, stehst du unter dem Kreuz und trotzt aller Angst? Bist du heute der Hauptmann, der zum Glauben findet? Zweifelst du noch? Bist du einer aus dem Hohen Rat, und fragst dich, warum der, der doch so vielen geholfen hat, sich nun nicht selber helfen will oder kann? Bist du Judas, dramatisch verstrickt in diesen Tag: Hast du den Herrn aufs Kreuz gelegt? Bist du Petrus, felsenfest von dir überzeugt und heute feige abgetaucht in die Dunkelheit?

Wo stehst du? Wer bist du? Bist du Pilatus, lebst du im Irrglauben, deine Hände wären rein und deine Weste weiß? Bist du Josef von Arimathäa, fest entschlossen, wenigstens den allerletzten Dienst zu vollziehen, und deinen Herrn würdig zu begraben? Oder bist du ein unbeteiligter Zuschauer, einfach nur verstört, verzweifelt, ratlos, wie es soweit kommen konnte?

Jeder von uns hat seinen Platz in diesen dramatischen Tagen und diesem dramatischem Geschehen. Dieser Platz ist nicht festgefügt, nicht wie in einem Passionsspiel, wo die Rollen für ein Jahr verteilt werden.  Unsere Rolle ändert sich vielleicht von Jahr zu Jahr, je nachdem, in welcher Lebensphase wir sind. Wer trauert, fühlt sich dem Gekreuzigten näher, als jemand, der gerade ganz oben auf dem sozialen Siegertreppchen steht. Unsere Rolle kann sich aber auch stündlich wechseln: Jeder von uns  füllt diese dramatischen Geschichten mit seinem Leben. Und wenn wir nachher nach vorne kommen, um das Kreuz zu verehren, dann werden wohl kaum zwei von uns das gleiche dabei denken und empfinden. Sein Kreuz wird zu unserem Kreuz, sein Leiden verbindet sich mit unserem Leid, und seine Hoffnung auf Auferstehung, auf neues Leben, wird auch zu unserer Hoffnung.

Weil sich unser Leben immer wieder wandelt, brauchen wir diese scheinbar unwandelbaren Kar- und Ostertage. Damit in der Unbeständigkeit unseres Lebens eines sicher, fest und verlässlich bleibt: Auf das Hosanna! folgt das Kreuzige ihn!, und auf das Es ist vollbracht das freudige Er ist auferstanden!.

Mittwoch, 27. März 2013

Crash


Der Anruf kam mitten in die Familienidylle: Sonntagnachmittag. Nach den Gottesdiensten und nach einer Tauffeier nun gemütliches Zusammensein im Kreise der Familie. "Hast du Zeit, um mit auf die Autobahn zu kommen?" - das war keine Frage, das war eine Bitte. 

Verkehrsunfall auf der Autobahn: Eine Tote, eine Schwerverletzte, ein Leichtverletzter und einer, der auf wunderbare Weise gar nichts abbekommen hat. Und dann noch die Verursacher: Keiner weiß, wie es passiert ist, aber innerhalb von Sekunden wurde ein junges Leben ausgelöscht. Ein dummer, schrecklicher Unfall.

Drei Notfallseelsorger im Einsatz: Meine Kollegen bleiben bei der Polizei. Kümmern sich um die Verursacher und die Ersthelfer vor Ort.

Ich fahre mit der Polizei ins Krankenhaus. Heimvorteil: Ich kenne die Notaufnahme durch den Rettungsdienst, kenne mich auch einigermaßen in der Klinik aus. Vieles ist mir vertraut, viele Gesichter sind mir bekannt. Und zum Glück treffe ich dort die Notärztin, von der ich insgeheim hoffte, dass sie an diesem Nachmittag Dienst hat. Ein Segen in weiß.

Meine Aufgabe an diesem Tag: Immer wieder eine Todesnachricht überbringen. Zuerst dem Bruder sagen, dass die Schwester den Unfall nicht überlebt hat. Dann dem Vater, dass seine Tochter tot ist. Und mittendrin die Polizei, die selbst im Krankenhaus Fragen stellen muss.

Die Familie kommt nicht von hier, wohnt im Süden Deutschlands. Sie haben Verwandte im Ruhrgebiet besucht und waren nun auf dem Weg nachhause. Die Tochter hatte sich erst vor kurzem verlobt. Der Schmerz über ihren Tod ist unermesslich. Der Vater, ein gestandener Mann, lässt seiner Trauer freien Lauf. Auch der Sohn ist fassungslos. 
Und doch geht jeder seinen eigenen Weg: Dann wird Notfallseelsorge ganz profan. Nicht das helfende Wort ist jetzt nötig, sondern die Suche nach einer Zigarette, der Gang vor die Tür, wo man einfach schweigend nebeneinander steht während einer raucht.  Das wird an diesem Tag zu einem meiner Hauptdienste. Ich bin ständig in Bewegung. In die Notaufnahme, zum Eingang, zur Station, nach draußen und wieder zurück. 

Der Unfall entwickelt eine ganz eigene Dynamik: Die Familie hat einen Migrationshintergrund. Dritte Generation, islamisch, in Deutschland angekommen und zuhause. Kultursensible Notfallseelsorge ist gefragt: Muslime haben eine ganz andere Bestattungskultur, andere Riten und vor allem andere Zeitabläufe.

Und in ihrer Kultur ist das soziale Netz weit und dicht gespannt: Noch während wir in der Klinik im kleinen Kreis tastend erste Schritte in der Trauer gehen, setzt sich im Hintergrund die Verwandtschaft in Bewegung. Irgendwann im Laufe des Abends werden sie aus Nord- und Süddeutschland eintreffen. Keiner weiß so recht, wer kommt und wie viele kommen. Die Reaktion ist verständlich: Wer von uns würde nicht alles stehen und fallen lassen, wenn irgendjemand in der Familie oder im engen Freundeskreis ein solches Unglück widerfährt? 

Und doch muss man sich vorbereiten: Wer kommt da? Wie viele? Wo sollen die übernachten? Was geschieht, wenn plötzlich zehn bis fünfzehn Menschen mit einem ganz eigenen kulturellen Hintergrund und einer eigenen Sprache zusammen kommen? Voller Trauer in einem viel zu kleinen Zimmer.

Die Stunden vergehen. Diese Zeit bis zum Eintreffen der Verwandten gibt uns Zeit für behutsame Gespräche. Mal ganz profan über den Beruf, die Familie, über die Kultur und die Sprache, über den bloßen Alltag. Und dazwischen immer wieder der Schmerz, die Tränen und die Trauer. Wie auf einer Achterbahn geht es auf und ab. Seelsorge wird zur Wegbegleitung in wörtlichster Bedeutung: Im Laufen durch das Krankenhaus löst sich was, kommt auch Bewegung in die Seele. Und manchmal ist es wichtig, einfach stehen zu bleiben und zu schweigen.

Am Abend kommen die ersten Verwandten. Ich versuche, die Todesnachricht behutsam zu überbringen. Aber das ist utopisch - wie kann man überhaupt behutsam vom plötzlichen Tod eines Menschen sprechen? Für mich ist die verstorbene junge Frau fremd. Nun stehe ich der Familie gegenüber, den Menschen, die sie aufwachsen sahen und die sie liebevoll behüteten. Und die sie jetzt doch plötzlich und unerwartet auf so grausame Weise verloren haben. Verständlich, dass der Schmerz und die Trauer ihren Raum fordern. Auch laut und heftig. Nicht ganz unproblematisch in einem Krankenhaus, wo noch andere Patienten liegen, die vor allem abends Ruhe brauchen. 
Irgendwann stehe ich vor dem Eingang der Klinik, um die ankommenden Verwandten abzufangen. Wir suchen einen Ort, wo laut getrauert werden kann, damit wir dann so weit es geht auf der Station Ruhe finden.
Bis zum späten Abend hat sich das Zimmer gefüllt: Vierzehn Personen sind gekommen, alle in einem Raum. Die Stimmung schwankt zwischen Trauer und aufbrausender Aggression: Auch das ist unserer Kultur fremd, wenngleich auch verständlich. Der Blick richtet sich auch auf den Verursacher des Leids. 

Jeder im Raum hat seine ganz eigene Geschichte: Da ist mittendrin und fast allein der Verlobte mit seiner Mutter. Er trauert um die verlorene Braut, sie um die Schwiegertochter, aber auch für ihren Sohn. Da ist der Bruder, der mit seiner Schwester schon manche schwierige Lebenssituation gemeistert hat, mit ihr gemeinsam eine Firma gründete und nun nicht weiß, wie es weiter gehen soll. Da sind Cousins, Freunde, Tanten, Onkel. Immer wieder knüpfe ich bei den verschiedenen Personen an, manchmal reicht ein Blick, ein Wort, eine sanfte Berührung an der Schulter. Ich werde zum Vermittler zwischen den Trauernden und den Krankenschwestern, zum Anwalt zweier Kulturen und ihrer unterschiedlichen Lebensweisen.
Am späten Abend finden wir einen Kompromiss: Gegen Mitternacht zieht sich der größte Teil der Angehörigen in einen Wartebereich zurück. Nur ein Onkel bleibt beim Vater und seinem Sohn.

Zehn Stunden sind seit der Alarmierung vergangen. Irgendwann mittendrin fragte mich die Ärztin, wie es mir geht und besorgte mir einen Kaffee. Es sind solche kleinen Gesten, die auch Notfallseelsorger gut tun.
Am Ende habe ich mich von der Familie verabschiedet. Irgendwann im Laufe des Abends hat jemand auf mein Collarhemd gezeigt und mich gefragt: "Sie sind von der Kirche?" Da war kein Misstrauen, keine Ablehnung, sondern sehr viel Respekt zu spüren. Als ich mich nun verabschiedete, sagte ich: "Ich bin kein Moslem, sondern Christ, aber ich frage Sie trotzdem,ob ich für Sie beten darf." Ich hatte mir diese Frage lange vorher überlegt. Die Antwort war überwältigend: Der Vater nahm meine Hand, hat sich unter Tränen bei mir bedankt. Sein Händedruck und sein Blick sagten mehr als Worte hätten sagen können.

Ich habe viel gelernt: Über diese andere Kultur, über Hierarchien innerhalb einer weit verzweigten Familie, über ihre Riten, Gesten und unausgesprochenen Regeln. Ich habe gelernt, dass auch Leid über alle Grenzen hinweg verbindet. Und über meine Vorurteile.

Draußen auf dem Flur begegne ich noch einmal der Ärztin. Sie hat einen langen Tag hinter und wohl noch eine lange Nacht vor sich. Es war auch ihr Einsatz: Immer wieder hat sie nach ihrem Patienten geschaut, immer wieder haben wir uns zwischendrin über die nächsten Schritte abgesprochen. Immer wieder sind wir uns auf dem Flur begegnet. Aber am meisten bleibt mir dieser Kaffee in Erinnerung: Eine Tasse Seelsorge für den Seelsorger. Hat gut getan.









Dienstag, 26. März 2013

Es kann nur einen geben

Nein, tut mir leid: Aber das hätte nicht passieren dürfen. Bei aller Versöhnung mit dem Rücktritt Benedikts und auch bei aller Begeisterung für seinen Nachfolger Franziskus. Dass die beiden sich begegnen, das ist ja auch in meinen Augen noch in Ordnung. Aber dass man diese Begegnung medial inszeniert, zeugt von wenig Sensibilität. Da hat jemand die Macht der Bilder unterschätzt.


Denn bislang galt auch für den größten Skeptiker: Ein Papst ist zurücktreten - ein neuer wurde gewählt. Habemus papam - wir haben einen Papst. Die Betonung liegt auf dem einen! Die Angst und Sorge, dass man durch den Rücktritt Benedikts plötzlich zwei Päpste in der Kirche habe, wurde nun durch die Bilder von der Begegnung der beiden nur unnötig befeuert. Was nutzen da Worte? Der emeritierte Papst hat dem neuen Papst Gehorsam versprochen? Die Bilder zeigten weltweit: Da sitzen zwei Päpste.


Früher war das eine Scherzfrage: Wie grüßen sich zwei Päpste? Und die Antwort: Überhaupt nicht, es gibt nur einen. Nun hat uns die Medien aber gezeigt, dass es zwei gibt oder geben könnte. Für einen mehr oder weniger ahnungslosen Nichtkatholiken war nicht erkennbar, wer hier gerade emeritiert und wer regiert. Zwei Päpste: Beide in weiß, beide am Beten, beide in gleicher Position. Und an dieser Stelle war dann die Demut des Franziskus doch ein wenig fehl am Platze. Denn indem er auf jedweden päpstlichen Vorrang verzichtete, verstärkte er den Eindruck noch, dass sich hier zwei auf Augenhöhe gegenüber stehen. 

In der Geschichte der Kirche gab es immer wieder mal zwei, manchmal sogar noch mehr Päpste. Die Kirche hat stets darum gerungen, diesen unseligen Zustand zu beenden und den wahren Nachfolger des Apostel Petrus zu bestimmen.

Ich bin so aufgewachsen. Es kann nur einen geben:  nur einen Highlander am Ende, nur einen Rudi Völler. Das sollten wir auch in der Kirche beherzigen und auf Bildern nicht zweimal zeigen, was es nur einmal gibt.




Dienstag, 19. März 2013

Versöhnt

Ich gebe es zu: Der Rücktritt Benedikt XVI. kam natürlich auch für mich überraschend. Und er hat mich ins Grübeln gebracht. Vieles wurde davon in der Presse dazu geschrieben: Es gab Befürworter und natürlich auch Kritiker.

Manches konnte ich gut nachvollziehen: Das Papstamt ist die letzte sakrale Institution unserer Welt und mit geradezu himmlischer Würde verbunden. Vieles konnte sich in der Kirche verändern, aber der Papst war immer der Fels in der Brandung. Ganz gleich, wie sehr die inner- und außerkirchlichen Wellen das Kirchenschiff auch in Bedrängnis brachten - der Papst schien unantastbar, schien fest gegründet als ewiger Garant der Kirche: "Ich aber sage dir: Du bist Petrus und auf diesen Felsen werde ich meine Kirche bauen und die Mächte der Unterwelt werden sie nicht überwältigen" (Mt 16,18). Ein Rücktritt ist bei solchen gewichtigen Zusagen nicht denkbar, schien bisher kategorisch ausgeschlossen. Erst recht nach einem Papst wie Johannes Paul II., der auf die Frage, ob er aufgrund seiner fortgeschrittenen Krankheit und seines offensichtlichen Leidens nicht an Rücktritt denke, eben zu Antwort gab, dass Christus ja auch nicht vom Kreuz herabgestiegen sei.


Und doch wissen wir: Alt werden will jeder, alt sein hingegen niemand. Für Benedikt XVI. war die Krankheit seines Vorgängers sicherlich auch eine Mahnung: Die moderne Medizin vermag vieles zu leisten und kann einen Menschen mittels teurer Geräte fast unbegrenzt am Leben halten. Eben auch einen Papst. Diese medizinische Entwicklung bringt viele ethische Fragen mit sich und die immer wieder aufflammende Diskussion um Sterbehilfe zeigt, dass das Problem schon längst mitten im Alltag unserer Gesellschaft angekommen ist: Nicht jeder, der am Leben gehalten wird, nimmt auch voll und ganz am Leben teil. 
Ein dementer Papst? Ein Papst im Koma? Pflegebedürftig? Bettlägrig? Was dann? Niemand würde ihm das Recht auf Leben oder seine Würde absprechen, wohl aber die Fähigkeit eine Kirche mit über einer Milliarde Katholiken zu leiden. Es mag sein, dass Benedikt XVI. gerade diese Problematik vor Augen hatte und sich daher gewissermaßen rechtzeitig aus der Leitung zurückzog. Andere wiederum sehen genau darin eine Zeichen des Kleinglaubens: Wen Gott zu einem Dienst beruft, den beruft er zur gegebener Zeit auch wieder ab. Aber vielleicht war dem Rücktritt ja genau diese innere Abberufung vorausgegangen? Eines ist sicher: Benedikt hat diesen Schritt nicht leichtfertig unternommen.


Seit Mittwoch, dem 13.03.2013 haben wir nun einen neuen Papst. Und bis dahin gehörte ich eher zur Partei der Rücktrittsskeptiker, sah vor allem den Schaden für das Amt, das nun von vielen nur noch als ein gewöhnlicher Job mit Rentenanspruch gesehen wurde. Aber schon in den Tagen zuvor wurden auch in mir die Weichen in eine andere Richtung gestellt. Ganz sanft fing es an,nämlich als Benedikt XVI. seinen Rücktritt näher erläuterte: Aus Papst Benedikt XVI. ist eben nicht wieder Joseph Ratzinger, sondern einfach Benedikt geworden. Aus dem Lenker und Leiter, aus dem Theologen und Denker wurde der Mönch und Beter. Er zieht sich zurück, aber eben nicht heraus: Und daher darf er sich in meinen Augen zurecht emeritierter Papst nennen, denn er ist es noch immer: Der Papst des Gebetes, der nun ganz und gar für seine Kirche in die Stille vor Gott tritt. Das ist nach wie vor sein Petrusdienst, eben nur auf eine neue, ganz andere Weise.


Er tut sich damit keinen Gefallen: Er kann seine Rente nicht genießen und einfach in die Alpen fahren. Es kann da draußen in der Welt keine zwei Päpste nebeneinander geben - auch wenn es in der Geschichte zum Leidwesen der Kirche mehrmals vorkam. Benedikt kann nicht irgendwo auftauchen und Vorlesungen oder Reden halten. Kaffefahrten mit dem emeritierten Papst wird es nicht geben. Und umgekehrt wird es wohl kaum Pilgerströme in den Vatikan geben, keine bayerische Blaskapelle unter Benedikts Balkon. Benedikt hat sich selbst in seiner Freiheit eingeschränkt. Es wird sich zeigen, wie viel man von ihm noch sehen und hören wird. Im Grunde genommen folgt er dem Beispiel seines päpstlichen Namenspatrons und zieht sich wie Benedikt von Nursia in die Klosterzelle zurück. Er spricht nicht mehr zur Kirche, sondern betet für seine Kirche.


Das ist ein ganz neuer Gedanke: Ein Papst zum Lenken und Leiten, einer zum Beten. Arbeitsteilung an höchster Stelle. Oder besser noch: Ergänzung im Amt. Nicht dass Papst Franziskus nicht beten würde, aber im hektischen Takt des Vatikans hat er eben auch noch ganz andere Aufgaben. Und schauen wir nur auf unser eigenes Leben: In der Hektik des Alltags ist das Gebet das erste, was geopfert wird, wenn die Termine überhand nehmen.


Ich kann mich mit dem Rücktritt Papst Benedikt XI. versöhnen, weil er das Amt nicht einfach aufgegeben  hat: Sicher setzt er einen neuen Maßstab. Aber eben nicht nur einen Maßstab für den Zeitpunkt und den Anlass  eines Rücktritts, sondern mehr noch für die persönlichen Folgen für den Zurückgetretenen. In der Öffentlichkeit und den Medien ist dieser Aspekt bisher weitgehend unbeachtet geblieben. Und doch wird auch das zum Maßstab für alle weiteren Päpste: Rücktritt ist möglich, aber es kann und darf immer nur ein Rückzug zum Gebet für die Kirche sein.

Freitag, 6. April 2012

Ich war das nicht!!!!

Nein, das war ich nicht. Ich nicht. Das lasse ich mir nicht einreden: Für meine Sünden gestorben. Nie im Leben.

Gut, ich gebe es ja zu: Niemand hat schließlich eine weiße Weste. Ein paar dunkle Flecken gibt es wohl immer. Irgendwo hat doch jeder eine Leiche im Keller. Nicht wörtlich – hoffe ich zumindest – aber doch bildlich: Es gibt sie, die dunklen Seiten in uns. Ich nehme mich da nicht aus.

Aber im Ernst: Auch wenn ich kein Engel bin, so bin ich doch auch kein Teufel. So schlimm, dass jemand für mich den Kopf hinhalten müsste, nein, so schlimm bin ich nicht. Schon gar nicht so schlimm, dass Jesus dafür auf solche grausame Weise sterben müsste.

Was habe ich denn getan? Nun gut, hier und da mal eine kleine Unwahrheit, nicht direkt gelogen, sondern die Wahrheit ein wenig zu meinen Gunsten verdreht oder einfach auch nur das Unangenehme verschwiegen. Und sicherlich passiert es manchmal auch, dass blinder Eifer in lauten Zorn umschlägt. Ja, meine Ungeduld, die gehört auch zu meinen Schwächen. Sünde würde ich das nun nicht gerade nennen. Ich kann es halt schlecht ertragen, wenn sich die Dinge unendlich lange hinziehen. Dann nehme ich die Sache lieber selber in die Hand.

Jeder von uns will doch leben. Und das geht nicht, ohne dass es hin und wieder zu Verletzungen kommt. Man darf sich schließlich ja nichts gefallen lassen. Man darf nicht immer nur einstecken, sondern muss auch austeilen können. So ist das nun mal in unserer Welt. Da braucht man hin und wieder auch Ellbogenmentalität und eine harte Linie. Steht das nicht auch in der Bibel: Gelobt sei der Herr, der meine Hände den Kampf gelehrt hat, meine Finger den Krieg (Ps 144, 1)?
Na bitte, da haben wir es doch. Wer sich mit mir anlegt, der bekommt das auch zu spüren. Ich teile aus, nehme kein Blatt vor den Mund. Gut, wenn ich mich dann mal so richtig in Rage geredet habe, dann mache ich auch schon mal andere fertig. Viel öfter passiert mir das auf verstecktem Wege: Ich rede über andere schlecht, damit ich besser dastehe. Hier und da eine kleine spitze Bemerkung, ein kleiner verbaler Giftpfeil, gut platziert – das trifft.

Und dennoch: Ich bin gewiss kein großer Sünder vor dem Herrn. Da gibt es doch ganz andere Kaliber: Hier, die Großen, die da oben, die die Macht haben und sie doch nur missbrauchen, um uns kleinen Leuten das Geld aus der Tasche zu ziehen. Wir, die Ehrlichen, sind am Ende doch immer die Dummen. Kein Wunder, dass wir uns hier und da mal ein wenig vom großen Kuchen gönnen wollen. Ich nenne das nicht Steuerbetrug, sondern ausgleichende Gerechtigkeit. Ich nehme mir nur, was mir zusteht.

Und überhaupt: Reden nicht gerade die von Moral und Tugend, die doch am meisten zu beichten hätten? Die Kirche? Na, kommen Sie! Kreuzzüge, Hexenverbrennung und von den schlimmen Taten der jüngsten Zeit wollen wir mal erst gar nicht reden! Und die erzählen mir, dass Jesus da für mich am Kreuz hängt!

Nie und nimmer! Ich war das nicht. Ich habe zwar meine kleinen Fehler, aber diesen Mord lasse ich mir nicht anhängen.

Und auch das muss mal gesagt werden: Wenn Gott mit meinen Fehlern Schwierigkeiten hat, dann soll er sich  gefälligst bei mir melden. Dann mache ich das mit ihm beim Joggen im Wald aus, von Mann zu Mann. Da brauche ich keine Kirche. Und auch keinen Jesus, der für mich gekreuzigt wird. Was ist das überhaupt für ein grausamer Gott, der seinen Sohn für meine Sünden ans Kreuz schlagen lässt?
Wo gibt es denn so etwas? Der  schlachtet sein Kind ab, weil ich böse war? Der Sohn ist doch unschuldig! Wenn schon Strafe für meine kleinen und größeren Sünden notwendig ist, dann kläre das doch bitte mit mir!

Schließlich gilt: Selbst ist der Mann – und auch die Frau. Hilf dir selbst, sonst hilft dir keiner. Steht ja auch im Evangelium, zumindest so ähnlich: Anderen hat er geholfen, sich selber kann er nicht helfen. (Mt 27,42), haben die Leute unter dem Kreuz gesagt.

Andererseits: Warum macht er das? Ich meine: Dieser Jesus, warum tut er das? Er hat Blinde geheilt, dem Teufel widerstanden, Lahmen auf die Sprünge geholfen, Wunder gewirkt, selbst Tote erweckt und Geister ausgetrieben. Bei seiner Geburt standen Armeen von Engel am Himmel und lobten Gott – und nun hängt er da so völlig machtlos an diesem Balken und stirbt grausam vor sich hin. Warum wehrt er sich nicht?

Ich an seiner Stelle hätte das nicht getan: Wenn du Gottes Sohn bist, dann steige herab vom Kreuz. Genau das hätte ich getan: Ich hätte ihnen gezeigt, wo der Hammer hängt. Schon viel früher natürlich, hätte es erst gar nicht so weit kommen lassen. Ich hätte die himmlischen Heere gerufen und zum göttlichen Kampf geblasen! Ich hätte mich nicht aufs Kreuz legen, mich nicht festnageln lassen.

Gut, die Botschaft der bedingungslosen Liebe Gottes wäre damit am Ende doch nicht durchgekommen. So gesehen hätte mein dramatischer Endkampf die Botschaft meines Lebens zerstört.

Aber dafür hätte alle Welt meine Macht am eigenen Leib gespürt. Alle hätten sich voller Furcht vor mir und meinen Engeln niedergeworfen in den Staub der Erde, und sie hätten mich angebetet. Zwar nicht aus Liebe, aber immerhin angebetet. Sie hätten erkannt, dass ich Gottes Sohn bin, und darum ging es doch, oder?

Mal ehrlich: So hätten Sie doch wohl auch reagiert? Sicher: Manchmal hält man im Leben auch noch die rechte Wange hin, wenn einer einen schon auf die linke schlägt. Aber das Kreuz? Nein, da hört doch der Spaß auf! Da hätten Sie sich doch auch gewehrt! Das lässt doch niemand mit sich machen!

Und doch stimmt es mich nachdenklich: Am Ende sagt der römische Hauptmann angesichts dieses Todes ausgerechnet über den Gehenkten in der Mitte, über Jesus: Dieser Mensch war Gottes Sohn.(Mk 15,39)
Was hat ihn davon überzeugt? Dass er nicht herabgestiegen ist vom Kreuz? Dass er nicht sich selber geholfen hat?

Vielleicht ist das die Ursünde des Menschen, die größte überhaupt: Diese ewige Selbstverliebtheit: Ich will, ich bin, ich kann, ich muss, ich habe, ich werde...ich, ich und immer wieder ich. Nicht auf andere vertrauen, nicht auf andere hören, nicht auf den Menschen an meiner Seite, schon gar nicht auf Gott: Immer nur ich, ganz selten nur wir, ihr oder du.

Dieses ewige Spiel der Menschheit, in den Tiefen des Alltags immer vorhanden und fest verankert in unseren Herzen: Dieser Wunsch nach Anerkennung, nach immerwährender Selbstbestimmung und Selbstbehauptung, frei zu sein von allen Schranken. Anstrengend ist das, ermüdend. Sich immer wieder selbst zu helfen, damit man gut dasteht. Sich nur auf sich selber zu verlassen, weil man sich sonst verlassen glaubt.
Es ist die Ursünde schlechthin: Da gibt es nur mich, keinen Gott und keinen anderen. Der Mensch kreist um sich selber, versucht, sich das innere und äußere Paradies zu schaffen, rackert sich dafür ab und kämpft dafür mit allen Mitteln.

Bei Jesus ist das anders: Dein Wille geschehe. Jesus opfert seine Macht als Gottessohn und begibt sich in die Ohnmacht des Kreuzes. Doch das Kreuz ist zugleich die tiefste Hingabe an Gott. Ich lasse mich festnageln, ich gehe durch Leiden und Tod – im Vertrauen auf Gott. Der Herr ist meine Kraft und mein Schild, mein Herz vertraut ihm (Ps 28,7).

Seit Anbeginn fällt uns Menschen dieses Vertrauen schwer. Unsere Geschichte und unsere Welt würden anders aussehen, wenn wir dieses Gottvertrauen auch im Angesicht des Kreuzes hätten. Dieser fehlende Mut, dieser fehlende Glaube, ist die Sünde, die alles andere nach sich zieht. Denn sie bringt den Stolz hervor, die Eitelkeit, die Überheblichkeit und den naiven Glauben, in allen Lagen mein eigener Herr sein zu müssen.

Jesus hat dieses Gottvertrauen vorgelebt, bis in den Tod hinein. Er hat sich nicht selber geholfen, und ist nicht vom Kreuz herabgestiegen. Damit auch wir an den  Kreuzen unseres Lebens aushalten, damit auch wir nicht unsere Macht ausspielen, damit auch wir dem Leiden nicht immer nur ausweichen, nicht nur auf unsere Kraft und unser Können, sondern auf Gottes Macht und Liebe vertrauen. Dafür ist er gestorben, grausam, brutal, unter Schmerzen und verzweifelt, für Sie - und auch für mich.


Sonntag, 25. Dezember 2011

Paradiesäpfel

Predigt: Hl. Abend 2011

Sie gehören zur Gattung der Kernobst- und zur Familie der Rosengewächse. Diese Gattung umfasst ca. 52 verschiedene Laubbaumarten. In Deutschland gibt es zwei große Anbaugebiete: Zum einen das Alte Land bei Hamburg, zum anderen die Region rund um den Bodensee. Die Früchte schmecken je nach Züchtung mal säuerlich herb, mal süß, mal sauer, es gibt sie in ganz unterschiedlichen Farben und auch mit vielen Namen: Golden Delicious, Jonagold, Gloster, Boskop, Elstar und viele andere mehr. Es gibt sogar eine japanische Sorte, die  - wenig überraschend – Fuji heißt. All Namen bezeichnen einen Kulturapfel, Malus domestica – die mit Abstand am meisten gegessene Frucht in Deutschland. Meine Lieblingssorte ist die Pink Lady: rosa, knackig, süß-säuerlich. Dieser Apfel weist zudem eine Besonderheit auf: er blüht als erster unter allen Äpfeln, wird aber als allerletzte Sorte geerntet.

In der Bibel kommt der Apfel nicht vor. Wie bitte? Wird nicht gleich am Anfang erzählt, wie Eva ihrem Adam einen Apfel reicht? Tizian, Raffael, Michelangelo, Lukas Cranach, Tintoretto – berühmte Maler haben so den Sündenfall in ihren Bildern dargestellt.

Zur Erinnerung: Am Anfang schuf Gott Himmel und Erde, er erschafft die ganze Welt und alles, was lebt. Und diese Welt schenkt er dem Geschöpf, das als einziges sein Ebenbild ist: dem Menschen. Adam und Eva: Mann und Frau, von Ewigkeit her für einander berufen, die Schöpfung zu wahren und durch ihre Fruchtbarkeit weiter zu führen. Gott schaut auf sein Schöpfungswerk und sah: Alles war gut. Gott und Mensch vereint im Paradies.

Doch es ist der Mensch, der die Grenzen überschreitet: In der Mitte des Paradieses steht dieser Baum, dessen Frucht nicht für den Menschen bestimmt ist. Wir kennen das zu gut: Man kann uns die Welt zu Füßen legen. Doch nicht das viele, was wir haben, sondern das eine, das uns verwehrt ist, wird uns zum Stachel im Fleisch.


Grenzerfahrungen fordern uns heraus: Alles darfst du haben, die ganze Schöpfung soll dir dienen, ja, du Mensch bist mein Ebenbild. Kein Geschöpf ist schöner, wertvoller, höher geachtet als du, geliebtes Menschenkind. Nur diese eine Grenze muss es zwischen Gott und Mensch geben: Die Früchte vom Baum des Lebens sind dir verboten. Du darfst im Schatten des Baumes liegen, du darfst dich an der Schönheit dieser Früchte erfreuen, aber du darfst sie nicht pflücken und essen. Denn diese Frucht hebt den notwendigen Unterschied zwischen Gott und Mensch, zwischen Schöpfer und Geschöpf auf. Der Mensch wird zu Gott.

Die Bibel lässt die Schlange als großer Verführerin auftreten und entlastet den Menschen dadurch ein wenig, indem er nicht nur zum Täter, sondern auch zum Opfer wird. Die Schlange überredet Eva, die schließlich die verbotene Frucht pflückt und an Adam weiterreicht. Vielleicht war es doch eine Pink Lady: knackig, süß-säuerlich, verführerisch in Aussehen und Geschmack. Jedenfalls geht die Geschichte böse aus: Der Mensch vergreift sich am Baum des Lebens, er zerstört die paradiesische Einheit mit Gott und seinen Geschöpfen.
Es geht dabei nicht um Äpfel. Nie und nimmer! Es geht vielmehr um die Frucht der bösen Tat: Der Mensch sieht nicht mehr seinen eigenen Wert, der ihm von seinem Schöpfer her als Ebenbild Gottes geschenkt ist, ja, er will sich überhaupt nicht mehr als Geschöpf sehen, sondern selber Gott und Schöpfer, Herr seiner selbst, Herr über andere, Herr über Leben und Tod sein.

Die Weltgeschichte ist voll solcher Gestalten, die sich nach dem Himmel ausstreckten, solcher Halbgötter in allen Farben und Formen. Die Erfahrung zeigt: Wo Menschen sich zu Göttern erheben wollen, öffnen sich nicht die Tore des Himmels, sondern vielmehr die Pforten der Hölle. Das ist mithin ein Grund, warum die Kirche in ihrem Heiligenkalender am 24.12. auch Adam und Eva gedenkt. Nicht der Apfel ist das Problem, sondern der Mensch.

Und gleichzeitig ist es wie bei der Pink Lady: Was am frühesten blüht, wird am Ende geerntet und zur süßen Frucht. Der Sündenfall steht am Anfang der gemeinsamen Lebensgeschichte von Gott und Mensch. Eine bewegte Geschichte voller Wirrungen, Suchen, Fragen, Liebesbeweisen, Verfehlungen und Sünden. Und heute wächst daraus eine ganz besondere Frucht: Der Baum des Lebens spiegelt sich im Holz der Krippe wieder. Die Sehnsucht nach dem Paradies findet heute ihre Erfüllung: Der Mensch muss sich nicht zum Himmel ausstrecken, muss nicht größer werden, als er schon immer ist. Der Mensch muss nicht Gott werden: Gott wird Mensch!
Heute gehen Gott und Mensch eine ganz neue, eine lebendige Gemeinschaft ein. Es ist eine Gemeinschaft der Liebe: das neugeborene, das uns heute seine Hände entgegenstreckt ist klein und schutzlos und wie kein anderes Lebewesen auf unsere Hilfe und mehr noch auf unsere Liebe angewiesen.

Seit dieser Heiligen Nacht in Bethlehem müssen wir jedes Neugeborene mit noch größerer Ehrfurcht empfangen: Ist die Geburt eines neuen Menschen schon für sich genommen ein Wunder, so erinnert sie auch immer wieder auch daran, dass jeder von uns selber ein Wunder ist: ein einmaliges, einzigartiges, unendlich geliebtes Geschöpf Gottes.Wir brauchen nicht nach dem Baum des Lebens zu greifen, der Apfel lockt nicht mehr.

Jeder von Ihnen ist Gottes Ebenbild. Nichts kann Ihnen  diese Würde nehmen, keine Note, keine Prüfung, keine Beurteilung durch wen auch immer. Nicht, was Sie haben, sondern wer Sie sind, ist in Gottes Augen entscheidend.
Schluss mit dem ewigen Strecken und Streben nach oben. Pilgern Sie nicht auf den ausgetretenen Leistungspfaden dieser Welt, sondern pilgern Sie zur Krippe. Machen Sie sich vor diesem Kind klein, um groß zu werden. Oder besser noch: um zu erkennen, wie groß Sie schon immer sind. Wie heilsam ist seine Botschaft: Ich bin für dich geboren. Du bist mir so wertvoll, dass ich zu dir kommen will. Ich will deinen Stall, deine Hütte, dein Haus, dein Herz zur Krippe machen. Die Engel des Himmels sollen darin wohnen, ihr Gloria klingt heute nur für dich allein. Der Himmel schart sich um dich, wo auch immer du bist. Deine Sehnsucht nach Größe und Anerkennung ist gestillt, weil ich, dein Gott, in dieser Nacht zur dir komme, dich heile und von allen Ängsten erlöse. Ich bin bei dir, heute alle Tage, bis an Ende der Welt.

Aus der verbotenen Frucht wird heute durch die Geburt Jesu der Paradiesapfel. Als vor ca. 400 Jahren die ersten Weihnachtsbäume aufgestellt wurden, schmückte man sie genau aus diesem Grund mit Äpfeln. Später begann man diese Äpfel mit Silber und Gold zu verzieren. Der Apfel verschwand, die Schmuckkugel blieb. Kaum einer weiß  heute noch, dass unsere heutigen Christbaumkugeln einmal Äpfel waren.


Schauen Sie genau hin. Und wenn sich Ihr Gesicht in einer solchen Kugel spiegelt, dann denken Sie an diese wunderbare Geschichte von Adam und Eva, von der Sehnsucht nach Größe und Göttlichkeit.
Schauen Sie genau hin. Und wenn sich Ihr Gesicht in einer solchen Kugel spiegelt, dann denken Sie daran: So wie ich bin, bin ich ein Ebenbild Gottes – für mich ist er heute Mensch geworden.

In diesem Sinne wünsche ich Ihnen ein frohes, gesegnetes, heilendes Weihnachtsfest!