Montag, 21. März 2011

Die letzten Ritter

Sean Connery lässt grüßen: In "Der erste Ritter" läuft der Altmeister des Kinos noch einmal zu Hochform auf und gibt der Sage um König Artus, Ritter Lancelot und der Tafelrunde einen ganz besonderen festlichen Glanz. Tapfere Ritter in schimmernder Rüstung - wer hat als Kind nicht von ihnen geträumt, hat nicht Ritter gespielt, Burgen gebaut und erobert. Die Ritterburg im Kinderzimmer lässt auch heute noch Kinderherzen höher schlagen.

Dass es heute noch echte Ritter geben soll, erscheint hingegen sehr unwahrscheinlich. Und doch sind sie uns vielerorts näher, als wir erahnen. Sie kämpfen schon längst nicht mehr gegen Drachen und sie erobern auch keine Burgen mehr. Wohl aber kämpfen sie noch immer um Leben und Tod. Es gibt sie tatsächlich mitten unter uns, nur verstehen sie sich nicht unbedingt selbst als Ritter und anscheinend wissen nur wenige Eingeweihte überhaupt, dass diese Männer und Frauen in der der Tradition der Ritter stehen. Eine Tradition, die schon fast 1000 Jahre zurückreicht.

Es begann in Jerusalem, als der (Selige) Gerhard von Sasso einen Ritterorden gründete. Ursprung dieses Ordens war ein kleines Haus in der Nähe der Grabeskirche. Wann und durch wen dieses Haus nun zu einem Pilgerhospiz umgebaut wurde, ist nicht ganz geklärt. Nur eines steht fest: Als die Kreuzfahrer 1099 Jerusalem erobern, da steht dieses Hospiz schon. Für seine Zeit hatte es einen außerordentlichen medizinischen Standard entwickelt, vor allem im Bereich der Hygiene und der Versorgung der Kranken. Und ebenso ungewöhnlich: Diejenigen, die sich da zu den Kranken hinabbeugten und sie umsorgten, waren nicht irgendwelche Diener, sondern adelige Ritter. Innerlich getragen waren (und sind sie bis heute) von dem Bibelwort, dass uns in den Armen und Kranken Jesus Christus begegnet.

Schon bald gingen die Ritter einen Schritt weiter: Statt die Pilger nur am Ziel ihrer Pilgerschschaft zu pflegen, versuchen sie nun auch, die Pilger auf ihrem Pilgerweg zu schützen. Zur Pflege kommt somit der Kampf zum Schutz der Pilger hinzu: tuitio fidei et obesequium pauperum - "Bezeugung des Glaubens und Hilfe für die Armen" - das wird der Leitsatz dieses Ritterordens, der sich nach Johannes dem Täufer als "Orden des seligen Johannes von Jerusalem" bezeichnet, oder kürzer und bekannter: als Johanniter.

Es ist diese Mischung aus Krankenpflege und mutigem Kampf, die die Johanniter so berühmt machen. Und zugleich sind sie die ersten, die ein internationales Netzwerk sozialer Dienste aufbauen. Schon bald finden sich zahlreiche Ordensniederlassungen in ganz Europa, werden an den großen Pilgerwegen Hospitäler gegründet, übernehmen sie Burgen, um die Pilger auf ihrer Pilgerfahrt zu schützen. Gerade das sichert ihr Überleben, als 1291 Outremer, der Traum vom Kreuzfahrerstaat endgültig mit dem Fall von Akkon zuende ist. Die Johanniter müssen das Helige Land verlassen, finden zunächst für kurze Zeit Asyl auf Zypern, dann neue Heimat auf Rhodos. Hier bauen sie die Insel zur Festung aus und sind dem Osmanischen Reich ein Stachel im Fleisch. Über zwei Jahrhunderte hinweg sichern die Johanniter von Rhodos aus das Mittelmeer und damit Europas südliche Küste. Die Johanniter schulen um: Aus den Rittern hoch zu Ross werden Marinesoldaten, die das Mittelmeer wie kein anderer kennen und gleichsam geachtet wie gefürchtet sind. Doch 1522 fällt Rhodos und nun erhalten die Johanniter einen letzten Zufluchtsort: Malta. Die Geschichte scheint sich zu wiederholen: Malta wird zur Festung ausgebaut und bald sichern Galeeren mit der Flagge der Johanniter wieder das Mittelmeer. Suleiman der Prächtige, der die Johanniter nach ihrem heldenhaften Kampf auf Rhodos noch mit Respekt abziehen ließ, möchte 1565  reinen Tisch machen und die Ritter endgültig vernichten. Doch die Ritter auf Malta sind zäh, leisten der großen osmanischen Übermacht vehementen Widerstand und halten aus: Suleimans Versuch, die Insel zu erobern und die Johanniter zu vertreiben, wird zum Debakel für seine Tuppen, die sich schließlich geschlagen zurückziehen müssen. Jetzt schaut ganz Europa voller Respekt auf diese Ritter, die endgültig die Gefahr einer türkischen Invasion über das Mittelmeer gebannt haben. Die Ritter auf Malta werden als Retter Europas geehrt und sind spätestens ab jetzt als Malteser bekannt.

Doch der Ruhm verblasst: Mit dem zunehmenden Verfall des Osmanischen Reiches schwindet auch die Bedeutung der Malteser. Die Gefahr aus dem Osten scheint gebannt. Die Entdeckung der Neuen Welt lenkt den Blick der europäischen Mächte schon bald nach Westen, zudem zerfällt Europas Einheit durch die Wirren der Reformation. Der Malteserorden erscheint bald nur noch als ein Relikt aus Kreuzfahrerzeiten. 1798 besetzt Napoleon Malta ohne große Gegenwehr. Der bis dahin souveräne Orden verliert sein Territorium und irrt nun die nächsten Jahre heimatlos durch Europa, bis er sich schließlich in Rom niederlässt. Es scheint, als gäbe es keinen Bedarf mehr an Rittern.

Und doch wird dieser Verlust der territorialen Souveränität zum Segen für den Orden, der sich nun wieder stärker auf den Dienst an den Kranken konzentriert und gerade dadurch zu neuer Blüte erwacht. Der Orden überlebt - bis heute. Nach vielen Wirrungen und auch nach großen Opfern in den zahllosen Kriegen, bilden sich in vielen Ländern eigene Hilfdienste, die mit dem Orden eng verbunden sind. In Deutschland wird 1953 der Malteser Hilfsdienst (MHD) ins Leben gerufen. Aus Rittern werden Retter: Die Helfer und Mitarbeiter stehen in direkter Tradition der Malteserritter bzw. der Johanniter, sind gewissermaßen die letzten Ritter.

Ihr Kampf ist noch immer ein Kampf um Leben und Tod, nur kämpfen sie nicht mehr mit Schwert und Lanze, sondern mit moderner Technik, mit Defibrillator und Infusionen. Tag für Tag erfüllen sie auf unterschiedliche Weise das obsequium pauperum in ihrem Leitsatz: Und nach wie vor gilt: Sie müssen in kritischen Situationen Ruhe bewahren, Mut beweisen und beherzt zugreifen. Ritter und Retter liegen so nahe beieinander.

Selbst in kirchlichen Kreisen ist erstaunlich wenigen bekannt, dass der Malteser Hilfsdienst eine katholische Organisation ist. Dabei ist es um so wichtiger, dass die vielen Helfer in ihrem Dienst geschätzt und unterstützt werden, damit neben dem Dienst für die Kranken und Verletzten auch der erste Teil des Leitsatzes gelebt werden kann: die tuitio fidei, die Bezeugung des Glaubens.

Heute, lieber Bischof Gellert, vertraue ich dir daher die Helfer deines Kollegen und Namensvetters an: Zum Heiligen Bischof Gerhard von Sagredo gesellt sich der Selige Bruder Gerhard: Dass wir als Kirche den Blick für diejenigen nicht verlieren, die in unserem Namen den Kranken und Armen dienen, dass wir ihnen Heimat und Beistand bieten, das ist mir ein Stoßgebet zum Himmel wert: Heiliger und Seliger Gerhard, bittet für uns!

Sonntag, 13. März 2011

Doch: Ich bin verboten gut!

Der Frühling kommt, die Fastenzeit ist da und schon bald nehmen wir Ostern und die Erstkommunion in den Blick. Und wie jedes Jahr zu dieser Zeit werden die längstvertrauten Fragen gestellt werden: "Wo sind denn die Kommunionkinder? Warum kommen die nicht in die Kirche?"
Und dann erwartet man die Antwort aller Antworten, oder besser noch: die Lösung aller Fragen und Probleme. Es muss doch zu schaffen sein! Wir müssen das doch hinbekommen! Wir müssen so gut werden, dass die gerne kommen und bleiben, die Kinder, ihre Eltern und alle anderen auch. Und wenn sie eben nicht kommen, dann haben wir was falsch gemacht. Dann haben wir sie nicht gepackt, dann haben wir es nicht geschafft, ihnen den Sinn der Heiligen Messe so zu erklären, dass sie jetzt ihr Leben lang jeden Sonntag in der Kirchenbank sitzen und die Eltern sich am besten gleich in tausend Gruppen engagieren und natürlich als Kandidaten für den Pfarrgemeinderat zur Verfügung stellen.

So geht das seit Jahren. Wie die Schlange auf das Kaninchen, so starren wir regelmäßig auf die Zielgruppe "Sakramentenpastoral". Heißt im Klartext: Wir hoffen, wir erwarten das geradezu Unmögliche, dass nämlich Menschen, die bisher wenig mit uns zu tun hatten, deren Glaubenswissen in vielen Fällen äußerst gering ist und die ihren Lebensrhythmus auch schon längst organisiert haben, sich plötzlich aufgrund der Kommunion- oder Firmvorbereitung in aktive, in beständige Gemeindemitglieder verwandeln. Und wenn das nicht geschieht, dann schauen wir schuldbewusst nach unten und sagen: "Mea culpa, ich habe es nicht geschafft!" Schon wieder nicht, auch in diesem Jahr, in diesem Kurs nur wenig Erfolg gehabt.

Also dreht man an der pastoralen Schraube: Noch eine Aktivität mehr in den Kurs einbauen, noch einen tollen Programmpunkt, noch mehr Termine, mehr Aufwand, mehr Action und stets auf dem neuesten Stand der Technik! Der Verantwortliche wird zum Medienallrounder mit spirituellem Tiefgang: Er soll fröhlich sein und freundlich zu jedermann, soll mit den Kindern herumtoben, Gitarre spielen und singen, tolle Spiele kennen, unzählige Basteltechniken aus dem Kopf beherrschen, muss sich mindestens mit Diaprojektor und Overhead auskennen, besser noch mit Laptop und Beamer, kennt seine Legematerialien in und auswendig und weiß genau, wie viele rote, blaue, grüne und sonstige Tücher dazu gehören. Perfekter Umgang mit Egli-Figuren wäre auch nicht schlecht. Und natürlich Methodenvielfalt: Bibliodrama, Bibliolog, Gruppen-, Stationen- und Paararbeit, am besten auch noch je nach Lernstand differenzierte Arbeitsaufträge. Außerdem muss er lustig sein und bei Kindern und Eltern gleichermaßen gut ankommen, wobei er keineswegs zu fordend und streng sein darf. In jedem Fall muss er ein supertoller Geschichtenerzähler sein. Das müsen nicht unbedingt die Geschichten der Bibel sein, sondern es darf selbstverständlich auch eine der vielen, vielen putzigen Symbolgeschichtlein sein, die wenig Tiefgang, dafür aber eine große Verbreitung haben. Und das Wichtigste überhaupt: Er muss für alles und jeden Verständnis haben.

Und so habe ich in den letzten Jahren immer wieder am Rädchen gedreht und z.B. die Kommunionvorbereitung geradezu perfektioniert. Provokant selbstbewusst stelle ich fest: Mein Kurs kann sich sehen lassen: Kommunionkindertage am Anfang und am Ende, ansprechende Mappe, Ausflug ins Kloster, HolyWins statt Halloween, Übernachtung im Pfarrheim, Anbetung, dreitägiger Aufenthalt in einem Jugendhaus, Ausflug in den Dom, Grillfest, Adventsfeier und Gruppenstunden, die wirklich in die Tiefe gehen. So weit so gut. Den Kindern macht es Spaß. Hinzu kommen noch die vielen anderen Angebote: Familien- und Kindergottesdienste, Krippenspiel und Gruppenstunde.

Und dennoch: Die Frage bleibt bestehen. Wo sind sie geblieben? Aber anders als in den letzten Jahren werde ich dieses Mal nicht sagen: "Ich habe, wir haben es wieder nicht geschafft!", um dann wieder und wieder zu überlegen, ob ich dem Kurs noch ein weiteres Highlight hinzufüge.

Nein, meine Arbeit ist gut. Und die Gemeinde auch. Dass so wenige bleiben - davon bin ich inzwischen überzeugt - hat kaum was mit uns zu tun. Denn der allgemeine Trend geht zur immer größer werdenden Unverbindlichkeit. Die Feuerwehr in Hessen verliert derzeit pro Jahr eintausend Helfer - warum sollte es der Kirche anders gehen? Unsere Kommunionkinder, ihre Familien, die Firmlinge, diejenigen, die uns für Kasualien in Anspruch nehmen, sie alle haben zum größten Teil ihr Leben schon ganz anders organisiert. Und sie sind nur teilweise bereit, nun alles für die Kirche umzuwerfen. Höchstens für eine bestimmte Zeit, aber auf keinen Fall verbindlich. Verbindlichkeit ist out, man engagiert sich in Projekten, löst die Zehner- statt der Dauerkarte.

Bitte nicht falsch verstehen: Ich plädiere nicht dafür, diesen Zustand hinzunehmen. Wir sind kein x-beliebiger Verein. Bei uns geht es nicht um Tore, Punkte und den Tabellenplatz. Bei uns geht es um unendlich viel mehr: um das Heil der Seele, um die Beziehung zu Gott. Daher dürfen wir selbstverständlich nicht hinnehmen, dass so viele der Hl. Messe fern bleiben, denn hier erhält die Seele in der Begegnung mit Christus in seinem Wort und in Gestalt von Brot und Wein Nahrung für den Weg zum Himmel. Das müssen wir um der Menschen willen mit dem gebotenen Ernst verkünden - wobei anzumerken ist, dass viele aus den eigenen Reihen das auch nicht mehr so dramatisch sehen, sondern den Gottesdienst unter der Rubrik "spirituelles Wellnesangebot" einordnen. Da geht man dann hin, wenn man es braucht und auch nur, wenn es einem was bringt.

Aber ich möchte uns ein wenig unseres Selbstbewusstseins zurückgeben: Es liegt nicht automatisch (nur) an uns. An unseren Angeboten oder Materialien und Konzepten. Wir müssen uns nicht jeden Schuh anziehen, sondern dürfen biblisch gesprochen auch selbstbewusst den Staub von den Füßen schütteln und weiter ziehen (Mt 10,14). Sicher: wir müssen immer wieder selbstkritisch sein, auch was unsere Verkündigung angeht. Aber wir müssen uns nicht unser eigenes Gutsein verbieten, nur damit die anderen nicht schlecht sind. es ist eine traurige Tatsache: Es gibt Häuser, in denen man uns nicht hören will, oder zumindest nicht alles, was wir sagen. Oder auch nur für eine bestimmte Zeit. Ganz gleich, mit welchem Aufwand und welchen Methoden und Konzepten wir versuchen, die Leute zu erreichen.

Ich rufe die in der Pastoral Tätigen auf, weiterhin sorgfältig und mit großem Engagement zu arbeiten, aber sich nicht nicht immer wieder den Frust zu holen. Manfred Lütz würde wahrscheinlich bei mancher PGR-Sitzung auf die Tagesordnung schauen und die Punkte 1-4 als "sorgfältig geplante Frustration" bezeichnen. Vornehmlich wohl diejenigen, die mit "Rückblick" beginnen, weil die sich allzuoft mit bloßen Zahlen beschäftigen. Wer den Erfolg der Kommunion- oder Firmvorbereitung daran misst, wie viele in der Kirchenbank sitzen, der wird schon während (!) des Kurses gefrustet sein und erst recht danach!

Generell stellt sich die Frage, ob Zahlen überhaupt ein Kriterium sein können für die Kirche und ihren Auftrag, das Evangelium zu verkünden. Die Zahlen gehen eindeutig zurück - nicht nur bei uns. Gerade kleinere Pfarreien in ländlichen Gebieten müssen sich von dieser Pastoralmathematik befreien, denn sie erzeugt bei denen, die "noch übrig sind" nur Frustration. Es könnte daher sehr hilfreich sein, den Blick zu weiten: Weg von der Gruppenpastoral der Pfarrgemeinde hin zur gesamtkirchlichen Weite.

Zu Zeiten des Hl. Gerhards gab es keine Gruppenpastoral im heutigen Sinne: Es gab die Seelsorge, die immer eingebunden war in das Gesamtgefüge der Kirche. Dass sich unser Blick wieder weiten möge, das ist mir ein Stoßgebet wert: St. Gellert hilf!




Sonntag, 6. März 2011

Gänsehaut

Mit der Beharrlichkeit einer Dreizehnjährigen und der ebenso typischen Spontanität stand sie heute nachmittag vor mir: "Lass uns da hinfahren! Wir besuchen sie jetzt einfach, vielleicht ist sie ja da!" Wir Erwachsene sind skeptisch: Seid fast drei Jahren hat sich die einstige beste Freundin zurückgezogen und ist ihre eigenen Wege gegangen. Der Bruch war heftig: Von heute auf morgen, ohne Erklärung, ohne Abschied. Einfach weg. Mit dem Schulwechsel wurde quasie alles gewechselt, ein ganz neues Leben angefangen.

Die Dreizehnjährige hat sie aber nie aufgegeben. Wer gestern meine beste Freundin war, den kann ich doch heute nicht einfach vergessen. All die Jahre hinweg hat sie beharrlich immer wieder kleine Zeichen gesetzt: Hier eine Karte, da ein Brief - vergeblich. Und dennoch: Wo wir Erwachsene vielleicht schon längst den Staub von den Füßen geschüttelt, uns resigniert und frustriert zurückgezogen hätten, da hat die Dreizehnjährige den Glauben nicht verloren. Und so stand sie heute nachmittag mit ihrer spontanen Idee in der Küche. Alle skeptischen Einwände der Erwachsenen wurden abgebügelt. Wenn nicht heute, wann dann?

Wir sind also mit großem Herzklopfen hingefahren und wurden freundlich empfangen. Die Freundin war in ihrem Zimmer, kam nicht heraus. Aber die Dreizehnjährige klopfte schließlich zaghaft und ging hinein. Ein paar Minuten später kam sie heraus und mir blieb fast das Herz stehen. Später erzählte sie mir auf dem Nachhauseweg: Wir haben miteinander gesprochen, nur kurz, aber es war schön. Wir konnten uns in die Augen sehen, das war das Wichtigste.

Die Dreizehnjährige erwartet kein Wunder, aber sie glaubt fest daran, dass sie heute schon ein kleines Wunder erlebt hat. Dank ihres beharrlichen und zugleich sanften Auftretens, ihrer besonderen Weise, der Freundin zu zeigen: Ich habe dich nicht aufgegeben. Ob es weiter geht? Das bleibt offen. Aber dass man sich nach Jahren in die Augen geschaut hat, das ist zumindest heilsam.

Und ich denke auf der Rückfahrt plötzlich an Jesaja 49,15: "Ich vergesse dich nicht." Manchmal lernen wir wohl mehr von unseren Kindern als umgekehrt. Und manchmal ähnelt diese Dreizehnjährige so sehr ihrer Namenspatronin, der Hl. Elisabeth von Thüringen, dass ich eine Gänsehaut bekomme.

Alles in allem ein Dankgebet an den Himmel wert!



Samstag, 5. März 2011

Starke Kinder in Not



"Wir haben dich in der Zeitung gesehen! Da war ein Bild von dir mit der gelben Jacke, die du manchmal anhast. Was ist denn da passiert?" - So haben mich meine Schulkinder die Woche begrüßt.
Es war der typische Unfall aus dem Lehrbuch der Fahrschule: Bus hält an, Kinder stürmen hinter dem wartenden Bus hervor und rennen über die Straße. Die kleinere der beiden Schwestern, sonst besonnen und ruhig, rennt einfach drauf los. Keiner weiß, was in ihrem Kopf vorging, warum sie dieses eine Mal nicht stehen blieb und auf den Verkehr achtete. Der Fahrer hatte keine Chance. Auf der Gegenfahrbahn erfasst er das Kind. Die "große" Schwester muss hilflos mitansehen, wie ihre kleine Schwester durch die Luft geschleudert wird und auf dem Aphalt aufschlägt. Sekundenschnelle Bilder, vielleicht noch ein Schrei, ein Erschrecken - all das brennt sich in die kindliche Seele ein. Für die Kleine kommt der Notarzt und der Hubschrauber, für die Große, die mit ihren gerade mal zwölf Jahren überhaupt nicht groß genug ist, das Erlebte auch nur ansatzweise zu tragen, kommt der Notfallseelsorger.

Es gibt Einsätze, bei denen man im Vorfeld schon eine große Last spürt: schon die Art und Weise, wie der Disponent in der Leitstelle mich informiert, die besonders vorkommende und freundliche Weise, mit der mich die Polizei durch die Absperrung winkt, da merkt man schon: Das hier ist kein Routineeinsatz. Hier liegt eine besondere Schwere und Dramatik über der Unfallstelle. Die Begrüßungsworte durch den Einsatzleiter kommen aus ganzem Herzen und haben eine vielleicht unbewusste Tiefe: "Gott sei Dank, dass Sie da sind!" 

Innerhalb einer Sekunde wird eine ganze Familie ins Nichts gestürzt. Die einzige Frage, die noch im Raum steht: Was ist mit meiner kleinen Schwester? Und dann die tausend Fragen im Hintergrund: Warum bin ich nicht vorangegangen? Warum habe ich sie nicht aufgehalten? Bin ich schuld? Auch eine Zwölfjährige stellt sich diese Frage und macht sich Vorwürfe. Da können Eltern, Tanten und  Oma noch soviel dagegen sagen. Da ist es gut, wenn einer von außen kommt und das Kind entlastet.
Manche Schuld kann man nicht wegnehmen, wenn man Teil des Systems ist. Erst recht wohl, wenn die Schuld gar nicht exisitert. In solchen Momenten bekommt man eine ganz neue Sichtweise auf das Beichtsakrament.

Die Erwachsenen kommen schnell an Grenzen: Die geradezu erdrückende Fürsorge der Familie wird der Zwölfjährigen irgendwann zuviel und dann wird es wichtig, dass der Notfallseelsorger sich zum Anwalt des Kindes macht. Dass er für das Kind gewissermaßen das Geschehen entschleunigt und anhält. Vorsichtig ausspricht, was es selber nicht zu sagen wagt: Lasst mich doch alle mal in Ruhe. Dann nachspürt und sensibel erfragt, was dem Kind jetzt gut tun würde. Und die Antwort ist verblüffend einfach: Nicht die lieb gemeinte, hilflose und daher so erdrückende Umarmung der Großmutter, nicht die vielen Worte der Tanten, nein, am liebsten hätte die große Schwester jetzt einfach nur ihre beste Freundin bei sich, die sie ohne viele Worte in den Arm nimmt. Kind tröstet Kind, weil beide sich verstehen. Es ist ein Wunsch, den ich ihr erfüllen kann, indem ich zu dieser Freundin fahre, sie über das Geschehen informiere und ihr den einen oder anderen Hinweis gebe, wie die beiden zueinander finden.

Der Vorhang ist bis heute noch nicht gefallen, das Ende ist noch offen. Noch immer wissen wir nicht, ob die Kleine den Unfall überlebt oder ihren schweren Verletzungen erliegen wird. Das ist einer dieser Einsätze, die selbst den erfahrenen Notfallseelsorger nicht loslassen. Und auch die Familie sucht noch den Kontakt: Auch wenn sie kirchlich bisher kaum gebunden war, kommt jetzt der Anruf, bei dem man einfach nur erzählen möchte und am Ende unter Tränen bittet: "Beten Sie weiter!"

Die ganze Woche über kommen ungewöhnlich viele Einsätze. Außergewöhnlich ist auch, dass viele Einsätze nicht nach zwei bis drei Stunden abgeschlossen sind. Der Notfallseelsorger steigt aus dem Einsatz aus, aber da haben die Betroffenen schon den Diakon im Blick. Ob gelbe Jacke oder schwarzes Collarhemd: Hauptsache wir haben jemand, den wir ansprechen können. Notfalls über Tage hinweg. Und wenn das schlimmste eintritt, dann kommt auch schon mal die Frage: Wir kennen keinen von der Kirche, aber Sie waren doch da - können Sie nicht die Beerdigung übernehmen?
Bei solchen Einsätzen wird mir deutlich, dass wir längst nicht mehr in Pfarrgrenzen denken dürfen. Die Pfarrei spielt hier keine Rolle, wohl aber die Kirche als Ganzes, die in solchen Extremsituationen eine ganz neue Bedeutung erhält.

Bei aller Schwere gibt es dann auch noch eine schöne Begebenheit: Auf dem Rückweg von einem Einsatz mitten in der Nacht gerate ich in eine Polizeikontrolle: "Bitte Führerschein und Fahrzeugpapiere!" Als der Polizist meine Einsatzjacke sieht und erfährt, dass ich gerade von einem Einsatz komme, sagt er nur freundlich: "Na dann, lassen sie mal stecken und fahren Sie nachhause. Gute Nacht!"

Was bleibt von dieser Woche, die noch immer nicht beendet ist? Vor allem eines: Das Gebet für das schwerverletzte Kind, für ihre große Schwester und deren starke Freundin, für die ganze Familie und einige andere, die in dieser Woche aus der Lebensbahn geworfen wurden: St. Gellert, hilf!