Sonntag, 6. November 2011

In Memoria II

Gräbersegnung: Meine Töchter begleiten mich als Ministranten auf dem Friedhof. Wir gehen von Grab zu Grab. Für meine Kinder ist der Gang über den Friedhof  Religionsunterricht mit den Füßen: Sie sehen und entdecken die Vielfalt der Gräber, die unterschiedlichen Gestaltungen und bewundern die vielen Wege, den Verstorbenen Gesicht und Namen zu geben.Ich war früher selber Ministrant und  lernte auf diese Weise einen sehr kindlichen und zugleich natürlichen Umgang mit Friedhof, Sterben und Tod. Damals habe ich viele Fragen gestellt, heute stellen meine Kinder mir diese Fragen: Sie wollen wissen, wer da begraben ist, wer das war und woran er gestorben ist. Vor allem, wenn es sich um sehr junge Menschen handelt. Besonders betroffen sind sie von Kindergräbern. Sie wollen wissen, warum sich manche Menschen verbrennen lassen, warum andere anonym bestattet werden und was die vielen Symbole bedeuten.

Meine Kinder lernen, die Menschen unserer Gemeinde mit ganz anderen Augen zu sehen: Zu vielen gehören Verstorbene. Hinter jedem Namen verbirgt sich ein Gesicht und eine ganz persönliche Lebensgeschichte: Der Gang über den Friedhof ist ein Gang durch die Geschichte unserer Gemeinde. Inzwischen sind auch mir viele dieser Namen vertraut: Viele habe ich selber gekannt, manchen sogar selber beerdigt. So manchen sehe ich noch vor mir, an viele habe ich noch lebendige Erinnerungen: Die Küsterin, die auf ihre stille Weise in der Sakristei wirkte. Der betagte Arzt, der für jeden ein offenes, freundliches Wort hatte. Der Mann im Rollstuhl, der immer an der gleichen Stelle saß und dessen Platz bis heute leer geblieben ist. Der alte Mann, der seiner Frau so schnell in Grab gefolgt ist. Beide waren zu Lebzeiten ein faszinierendes altes Ehepaar, haben das ganze Leben mit seinen Höhen und Tiefen miteinander geteilt. Jetzt sind sie bei Gott vereint.

Und dann die vielen Hinterbliebenen: Auf dem Friedhof erfährt man im Angesicht der Gräber so manches, was im Alltag verborgen bleibt. Die ansonsten so unscheinbare Frau in der Kirchenbank ist auf dem Friedhof die Mutter, die auch nach über dreißig Jahren noch über den Tod ihres Sohnes trauert. Viele trauernde Mütter und Väter trifft man hier. Aber auch viele längst erwachsene Kinder, die dankbar an den Gräbern ihrer Eltern und Großeltern stehen.
Und auch Leute, die mit Kirche erst einmal gar nichts zu tun haben, sich aber freuen, wenn man sie einfach mal anspricht. "Soll ich ihr Grab auch segnen?" Keiner lehnt ab, im Gegenteil: Manchen trifft man dann noch an einem zweiten, dritten Grab wieder, wo er schon wartet.

Es ist gut zu wissen, dass wir an Tagen wie heute über den Friedhof gehen und all diesen Menschen noch einmal im Gebet für ihren oft so unscheinbaren, stillen, einfachen und doch so lebenswichtigen Dienst danken. Und es ist gut, wenn unsere Ministranten und Kinder Tage wie diese erleben, denn so wachsen sie in die Trauerkultur unserer Gemeinde hinein: Der Tod gehört zum Leben.


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