Mittwoch, 19. Oktober 2011

Verwundbar


Der Anfang des Kurses ist chaotisch: Ein Haufen Jugendlicher, gerade mal um die vierzehn Jahre alt. Laut, unruhig, quietschlebendig, nicht gerade hochkonzentriert, eine Mischung zwischen noch müde und schon völlig aufgedreht. Es gibt da auch Freundschaften, man kennt sich über die Schule, aber ein Team sind sie noch lange nicht. Und fragt man sie, warum sie die Ausbildung mitmachen, kommen ganz unterschiedliche Antworten. Besonders erwähnenswert: "Ich wollte gar nicht in den Kurs, habe keine Ahnung, warum ich jetzt hier bin!"

Sechst Tage später sieht das so aus: Fünfzehn Jugendliche präsentieren sich in der Schule als Schulsanitäter. Begleitet vom Kurs des Vorjahres (den "Erfahrenen") und den Ausbildern demonstrieren sie stolz ihre neu erlernten Kenntnisse und Fähigkeiten. Sie zeigen Verbände, leiten Klassenkameraden und Lehrer bei der Reanimation an. In ihren gelben Warnwesten mit der Aufschrift "Schulsanitätsdienst" wirken sie plötzlich so erwachsen und es scheint, als seien in den letzten Tagen alle auch ein Stück größer und selbstbewusster geworden. Nun gut, es gibt da auch Grenzen, über die man schmunzeln kann: Eine Schülerin traut sich nicht so recht, einem Lehrer den Blutdruck zu messen, aus Angst, sie könne was falsch machen und würde dann von der Schule fliegen. Und alle Kursteilnehmer sind auch schon ein gutes Stück zum Team zusammen gewachsen: Denn auch das haben sie gelernt, dass sie im Ernstfall zusammen arbeiten müssen.

Zwischen diesen beiden Terminen liegt eine anstrengende Zeit. Wir haben viel von ihnen verlangt: Die normale Projektwoche erstreckte sich über vier Vormittage. Die Schulsanis fingen schon drei Tage früher an und sie hatten auch erst am späten Nachmittag Feierabend. In der Zwischenzeit haben wir sie nicht geschont: Es war lustig, es war spannend, aber es war auch ernst und anstrengend. Bei allem Spaß musste auch gelernt werden, dass es hier um mehr als nur ein einmaliges Projekt ging: Erste Hilfe ist im Ernstfall lebensrettend. Und daher muss das Wissen sitzen, müssen Handgriffe routiniert ablaufen. Da dürfen die Ausbilder keine Kompromisse eingehen.

Im Laufe der Woche konnte man sehen, dass sich das was bei den Jugendlichen verändert: Sie wurden ernster (trotzdem hatten wir noch sehr viel Spaß) und so manchem wurde klar, dass ihm hier eine große Verantwortung zugetraut wurde. Das ist vielleicht der wichtigste innere Fortschritt: Die Erkenntnis, dass wir ihnen tatsächlich zutrauen, im Ernstfall das Richtige zu tun und so unter Umständen Leben zu retten. Daran kann man als junger Mensch wachsen und reifen. Die Botschaft lautet: Du bist gut, du kannst das, du schaffst das! Das hat Nachwirkungen über die Projektwoche hinaus. Für manchen Lehrer ist das gewöhnungsbedürftig: Sei immer nett zu deinem Schüler - im Ernstfall kann er dein Leben retten!

Ich bin sehr dankbar, dass diese Jugendlichen sich für diese Ausbildung und dann auch den Dienst als Schulsanitäter zur Verfügung stellen: Sie haben sich in großem Maße engagiert, viel Freizeit geopfert. Am  Abend des letzten Kurstages waren alle todmüde, aber glücklich. Ein wenig Kinderfreizeitfeeling stellte sich ein: Man muss Aufhören, wenn es am schönsten ist. Es ist ein Geschenk, Jugendliche auf solche Weise begleiten zu dürfen, mitzuerleben, wie sie wachsen und reifen, Verantwortung für sich und andere übernehmen.

Für mich persönlich war es eine ganz besondere Zeit: Viele dieser Schüler kenne ich nun schon seit der fünften Klasse oder sogar noch von der Grundschule oder durch die Pfarrgemeinde. Ich darf sie schon seit langem im Unterricht begleiten, manche kenne ich über meine Tochter auch persönlich sehr gut. Sie sind mir über die Jahre hinweg ans Herz gewachsen, sind immer auch "meine" Kinder. Jetzt sind sie wieder ein Stückchen erwachsener geworden - das geht ans Herz.

Und gleichzeitig sind sie noch so verletzlich, in vielem noch Kind. Auch das dürfen wir nicht vergessen und es ist unsere Verantwortung, sie zu begleiten und und auch weiterhin zu unterstützen. Tatkräftig durch Aus- und Weiterbildung. Ganz gleich, wann und wo man Erste Hilfe leisten muss: Man  exponiert sich, denn man übernimmt Verantwortung. Helfer sind auch verwundbar: Viele helfen nicht aus Angst, Fehler zu machen. Wer hilft, besiegt die Angst, aber Fehler kann (und darf) er trotzdem machen.

Daher benötigen sie auch die Unterstützung im Gebet: Und so zünde ich für jeden eine Kerze an und bete zum Himmel: St. Gellert hilf!

Sonntag, 16. Oktober 2011

Panem et Circenses

Ein Anruf am Abend. Die Frau am Telefon schießt gleich los: Auf einer Reise nach Israel hat man in ihrer Gruppe ausführlich über den Besuch des Papstes diskutiert. Kurz gesagt: Alle waren dagegen. Nicht gegen den Papst, wohl aber gegen das, was er gesagt hat. Aber noch viel mehr hat man sich über das aufgeregt, was er nicht gesagt hat.

Und dann kommen alle diese Themen wie aus der Pistole geschossen. Was denkst du über...(Luft holen): Wiederverheiratung, Frauenweihe, Gemeinsames Abendmahl, Demokratie in der Kirche und schließlich immer und immer wieder das Thema der angeblich so verklemmten Sexualmoral der katholischen Kirche. Ich kann kaum zuhören: In schneller Folge kommen die Fragen und im Grunde genommen habe ich kaum Zeit zum Antworten. Alsbald erschleicht mich das bittere Gefühl: Es geht auch gar nicht um meine Antworten. Die will man überhaupt nicht hören, geschweige denn sich ernsthaft mit den einzelnen Themen auseinandersetzen. Es geht nicht um einen aufrichtigen Dialog, sondern nur darum, dass ich mir diesen Monolog aus Frust und Forderungen anhöre. 

So ergeht es mir oft in letzter Zeit. Dabei bin ich in puncto Forderungen mit Sicherheit die falsche Adresse. Das wissen meine Monologpartner, aber sie wollen wenigstens meine uneingeschränkte Solidarität (mit wem auch immer) und meine grenzenlose Zustimmung, dass sich in der Kirche gefälligst was zu ändern habe. Jetzt und gleich.

Panem et circenses, Brot und Spiele war das Motto im alten Rom. Die Gesellschaft macht Druck: Wer den Massen gefallen will, der muss mit der Zeit gehen. Zugeständnisse machen und dabei auch mal fünfe gerade sein lassen. Und immer wieder geht es um Brot im gemeinsamen Abendmahl und um vermeintliche Sexspiele. Daher hat man dem Papst bei seinem Besuch eine Liste aller möglichen Forderungen vorgelegt. Matthias Matusek sprach vom Papst als "Oberkellner aus Rom", dem man einfach seine "Bestellungen diktiert" habe: Nun, lieber Kellner der Taverna Romana, bringen Sie bitte mal ein paar nette Geschenke herbei. Der vermeintliche Kellner hat die Erwartungen nicht erfüllt: Ohne Gastgeschenke und ohne Zugeständnisse ist er abgereist. Immerhin: Selbst dem Philosophen David Precht, der sich als Atheist bezeichnet, erschien die Begrüßungsrede des Bundespräsidenten als "unhöflich", habe er doch "seine eigene Biografie" in einen Forderungskatalog an die Kirche umgewandelt. 

Und so wirkt der Besuch des Papstes noch nach: Panem et circenses, Brot und Spiele wurden nicht gewährt, also war der Besuch zwar nett, aber letztlich für die (deutsche) Kirche fruchtlos.

Nun sehe ich das erwartungsgemäß anders: Mich stimmt hoffnungsvoll, dass der Papst den Blick über den Tellerrand geweitet hat. Denn wir Deutschen sind tatsächlich nicht der Nabel der Welt. Wir sind Teil einer Weltkirche. Auf meinem Haus weht eine Vatikanfahne: Was anfangs vielleicht noch ein Gag war (als Gegenpool zur WM-Flaggen-Hysterie), ist inzwischen Überzeugung: Ich gehöre einer Gemeinschaft an, die sich in ihren Werten und Normen weltweit orientiert. Das sollten wir nie vergessen. Denn damit sind wir Katholiken immun gegen nationalistische Tendenzen. Unser Glaube ist nicht deutsch, unser Glaube ist katholisch, weltumspannend. Die deutschen Katholiken machen gerade mal zwei Prozent der Weltkirche aus - und ihre Zahl sinkt beständig. Gemessen an dieser Zahl wirkt es zuweilen paradox und arrogant, mit welcher Selbstsicherheit viele glauben, unsere deutschen Fragen und Vorstellungen müssten den Takt der Kirche vorgeben. 

Der im Juli 2011 in Mannheim eröffnete Dialogprozess lässt daher viele Fragen offen: Ist das überhaupt ein Dialog? Oder geht es nur um Forderungen? Die diskutierten Themen (sofern sie diskutiert werden) kursieren seit Jahrzehnten in der Kirche - jeder Theologiestudent wird regelmäßig damit konfrontiert, wenn nicht sogar belästigt. Aber wo waren die kritischen Stimmen, die während bzw. nach dem Papstbesuch sich gegen diese Forderungsmentalität deutscher Politiker und Parteien wehrten? Warum hat niemand den Mut gehabt, den Forderungen nach Veränderungen zunächst einmal die Forderung nach Dialog, nach Forschung, Studium, Erfahrungsaustausch, Erkenntnisgewinn und Meinungsbildung entgegenzusetzen? Kurzum: Wer wagte es, den vermeintlichen Reformthesen wohlbegründete Antithesen entgegenzusetzen, damit dann in einem dialogischen Prozess eine Synthese gefunden werden kann? Und wer hatte den Mut, die Grenzen des Dialoges aufzuweisen? 

Letztlich war es der Papst selber, der in erstaunlichem Maße die Ruhe bewahrte. Benedikt ließ sich nicht provozieren. Der deutsche Papst ist längst in Rom angekommen und er ist sich bewusst, dass er nicht der Papst der Deutschen, sonder der Papst der weltweiten katholischen Kirche ist. Daher fand er wohlüberlegte und klare Worte und machte bei seinem Besuch zwei Dinge klar: Über Dogmen lässt sich nicht verhandeln. Es gibt im Glauben feste Wahrheiten, die man nicht nach Belieben abändern kann. Was gestern wahr ist, ist auch heute wahr und muss auch morgen noch wahr sein. Damit widersprach er der in unserer Zeit so beliebten Relativierung der Wahrheiten. Kirchliche Fragen lassen sich nicht mit einem Federstrich klären, sie bedürfen der theologischen Diskussion und sorgsamer Abwägung. Und zweitens: Alle Reformen und Prozesse innerhalb der Kirche bedürfen der Verankerung in der Tradition und der weltweiten Gemeinschaft. 

Wenn das im Dialogprozess seinen gesunden Niederschlag findet, dann hat er in meinen Augen eine Chance. Anders wird er lediglich viele Bäume das Leben kosten, weil er tonnenweise Abschluss-, Zwischen- und Ergebnisprotokolle hervorbringen wird, die sich im Bücherregal nett ausmachen, aber letztlich nur Studenten lesen - und auch nur weil sie es müssen. Ich spreche da aus leidvoller Erfahrung: Zahllose Dokumente der Deutschen Bischofskonferenz musste ich mir einverleiben, Texte der Gemeinsamen Synode der deutschen Bistümer und - schmerzlicher Höhepunkt - die ebenso zahlreiche wie trockene Dokumente über den Konziliaren Prozess über Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung. Allein der Titel lies mich schon erschaudern.

Der Dialogprozess ist auf fünf  Jahre angelegt, die Themen sind sehr weit gewählt und dementsprechend wird auch die Fülle der Dokumente sein. Man fragt sich, was da am Ende herauskommen soll, außer viel Papier? Was wird man mit dem Ergebnis machen? Man wird es nach Rom schicken, denn da gehört es hin. Und dort wird man sich die notwendige Zeit nehmen, die Thesen aus Deutschland in den weltweiten Kontext der Kirche zu setzen. Und wem dieses Schema bekannt vorkommt, der liegt völlig richtig: Es gibt nichts Neues unter der Sonne (Koh 1,9). So erging es nämlich schon sehr vielen Papieren aus Deutschland: Vor dem Hintergrund der lebendigen afrikanischen und asiatischen Kirche relativiert sich unser deutscher Thesenkatholiziusmus sehr schnell.

Aber: Ist das wirklich das, was die (deutsche) Kirche braucht? Braucht sie nicht vielmehr einen Prozess über den Dialog als einen Dialogprozess? Und zwar darüber, wie man die Grundwahrheiten unseres Glaubens wieder in die Gesellschaft transportiert ohne sich ständig selber im Weg zu stehen? Wie kann es z.B. sein, dass wir Religionslehrer an Schulen haben, die ihre eigene Kirchenkritik an den Schülern abarbeiten (was die meisten Schüler gewaltig nervt)? Wie kann es sein, dass in unseren eigenen Reihen Hauptamtliche jeglicher Couleur lieber in der Kirche politisieren als in der Gesellschaft missionieren? Und wie kann es sein, dass wir in weiten Kreisen der Kirche fast nur noch über die Reform als über den Glauben der Kirche sprechen?

Mich stimmen die vielen Jugendlichen hoffnungsvoll, die mit dem Papst die Hl. Messe in Berlin und die Vesper in Freiburg gefeiert haben. Denn das Verrückte an der Sache ist: Gerade bei Jugendlichen mache ich die Erfahrung, dass eben dieses katholische Festhalten an Werten und Wahrheiten eine gewisse Faszination ausmacht. Wir sind der letzte Fels in der Brandung, die letzte Reibungsfläche, die herausfordert: das ist störend, das ist nervend, das ist Salz in den Wunden unserer Gesellschaft. Aber es ist gerade für Suchende und Heranwachsende auch heilend, bildend und richtungsweisend.

Nach der Wahl Josef Ratzingers zum Papst wurde in Deutschland gejubelt: Wir sind Papst! Jetzt haben viele Zeitungen geschrieben, dass dieser Ruf inzwischen verklungen sei. Ich kann dazu nur sagen: Gott sei Dank!

Im Hinblick auf die deutsche Kirche bleibt mir daher nur ein: St. Gellert hilf!




Freitag, 14. Oktober 2011

Weh getan

Über Jahre hinweg sammelt man so seine Erfahrungen in der Notfallseelsorge und auch wenn es erschreckend klingt: Obwohl jeder Einsatz einzigartig ist, jeder Mensch in Not ein Höchstmaß an individueller Zuwendung und Betreuung verdient, so gibt es doch auch gewisse Routinen. Wenn die Einsatzmeldung kommt, hat man aufgrund seiner Erfahrung eine gewisse Vorstellung, welche Bilder, welche Abläufe einen erwarten. Man kann auch einigermaßen abschätzen, wie lange ein Einsatz dauern wird. Und doch kann man damit völlig daneben liegen. Es gibt auch für erfahrene Notfallseelsorger noch Neues, noch Einsätze, die unter die Haut gehen und lange nachwirken. 

Vor kurzem musste ich das auf drastische Weise erleben. Zunächst klang es nach einer Routinemeldung: Reanimation, wahrscheinlich mit negativem Ausgang, also häuslicher Todesfall. Doch vor Ort sah das dann so aus: Mutter mit zwei Kindern. Die beiden Kinder haben gefrühstückt, nun wird es Zeit, sich für den Kindergarten fertig zu machen. Beim Haarekämmen sackt die Mutter ganz plötzlich in sich zusammen und bewegt sich nicht mehr. Es wird eine Weile gedauert haben, bis die Kinder realisierten, dass es sich hier nicht um einen Spaß, ein Spiel, auch nicht um einen plötzlichen Anfall von Müdigkeit handelt: Mama wacht einfach nicht auf, Mama braucht Hilfe - wir brauchen Hilfe. Die ältere der beiden Schwestern vollbringt mit ihren knapp fünf Jahren eine außergewöhnliche Leistung: Sie sucht das Telefon und findet aus einen Berg von Zetteln auf dem Tisch genau den mit der Telefonnummer der Großeltern. Mein Sohn ist im gleichen Alter und ich bin sicher, dass er das nicht könnte.

Wie viel Zeit ist bis zu diesem Anruf bereits vergangen? Die Großeltern kommen in die Wohnung und alarmieren den Notarzt. Doch am Ende ist jeder Einsatz vergeblich.

Als ich an den Einsatzort komme, sind die Kinder bei Nachbarn. Diese haben eine kleine Boutique und werden an diesem Vormittag zu Helden: Sie lassen die Kinder mit den Schuhen und Kleidern, die eigentlich zum Verkauf gedacht sind, Modeschau spielen. Sie gehen mit ihnen auf den Spielplatz, kochen für sie, sind einfach für sie da. Und ihr Hund auch.

Die Mutter war jung, sie war sportlich, dynamisch, alles, was uns die gängige Werbung als gesund und vital suggeriert. Ihr Tod kam völlig unerwartet. Die Großmutter kann den Tod überhaupt nicht fassen, erst als die Einsatzkräfte das Haus verlassen, findet sie langsam wieder Ruhe. Sie setzt sich neben ihre Tochter und hält ihre Hand. So hat sie das früher auch gemacht, als die Tochter noch klein war, als sie krank war, Angst hatte oder sich einsam fühlte. Es ist ihr letzter Dienst als Mutter an ihrer Tochter, ein stiller, zärtlicher Dienst mit der Botschaft, dass sie ihr Kind auch im Tod nicht allein lassen wird.

Wir warten auf den Vater. Er braucht zwei bis drei Stunden und diese Stunden sind voller Gespräche. Die verstorbene Mutter wird in den Worten noch einmal lebendig: Sie erhält einen Namen, ihr Leben wird noch einmal greifbar. Und immer wieder pendele ich zwischen diesen beiden Welten: Hier das Haus der Trauer, dort das Haus kindlicher Freude. Die Kleinen stellen den Laden auf den Kopf, sie fühlen sich dort wohl, auch wenn zumindest die größere der beiden eine leise Ahnung hat, dass irgendwas nicht stimmt: "Mama ist entweder im Krankenhaus oder tot", sagt sie irgendwann ganz sachlich zu uns. 

Als der Vater endlich kommt, braucht auch er seine Zeit, den Tod seiner Frau im wahrsten Sinne des Wortes zu begreifen. Wir nehmen uns diese Zeit, es gibt keinen Grund zur Eile. Schließlich kommt der Moment des Abschieds, als die Mutter von Bestatter abgeholt wird. Stunden sind inzwischen vergangen und für den Notfallseelsorger kommt nun was ganz Neues: Die Kinder müssen zurück ins Elternhaus. Ich bereite den Vater vor, suche mit ihm einen Weg, wie er in dieser Situation seinen Kindern begegnen kann. Wir suchen die Trittsteine, die Halt geben, den Pfad im Dunkeln.

Also gehe ich zu den Kleinen und breche das fröhliche Spielen ab. Ich mache mich klein vor ihnen und sage ihnen, dass wir nun nachhause gehen. Ich versuche, das Geschehene zu erklären, aber mit welchen Worten sagt man zwei Kindergartenkinder, dass ihre Mutter tot ist? Das allerwichtigste sage ich zuerst und immer wieder: Der Großen, dass sie alles richtig gemacht hat, dass sie prima reagiert hat. Und dann: Euer Papa ist da, eure Großeltern, die Mama nicht.

Die Nachbarin begleitet mich. Sie nimmt die Große, ich die Kleine an der Hand und so gehen wir über die Straße. Jeder, der uns sieht, weiß, dass das kein leichter Gang. Auch wenn die Kinder fröhlich hüpfen und lachen. Doch ich weiß: Auf der anderen Seite wartet ein Zuhause, dass nicht mehr so ist, wie es war. Es ist keine Rückkehr in die heile kindliche Welt, denn es fehlt die entscheidende Person. Eine Mutter ist unersetzlich. 

Normalerweise spenden Notfallseelsorger Trost und versuchen sie, eine gute Struktur zu finden, die die Betroffenen möglichst schnell und umfassend in ihr soziales Netzt einbindet. Aber bei diesem Einsatz war das zumindest für die Kinder vordergründig anders: Der Notfallseelsorger führt die Kinder in die unheilvolle Situation hinein. Natürlich: Die Situation war vorbereitet, so gut es ging. Und der Weg war der richtige. Dennoch bleibt das Erlebte hängen. Kindlich gesprochen: Manchmal tut Notfallseelsorge auch weh. 

Ungefähr zwei Wochen später komme ich nachhause und finde einen Zettel auf meinem Tisch. Irgendwie hat die Großmutter über die ortsansässige Kirchengemeinde meine Telefonnummer erhalten und sich bei meiner Frau herzlich für meinen Einsatz bedankt. Das kommt selten vor, ist aber eine schöne und sicherlich wohltuende Rückmeldung.

Kinder haben ihre ganz eigene Weise, mit dem Tod umzugehen. Auf uns Erwachsene wirkt das manchmal unbedarft. Und dennoch: Die Schlag geht tief und gräbt sich wie bei einem Baum tief in den Stamm. Die Jahresringe werden für immer von dieser Katastrophe erzählen. Dem Glaubenden verheißt der Baum des Kreuzes Hoffnung und Auferstehung, trotz aller Wunden im Inneren. 


Am Ende kann man daher die Familie, insbesondere die Kinder nur noch nach oben in Richtung Himmel abgeben. Und eindringlich beten: St. Gellert hilf!