Mittwoch, 27. März 2013

Crash


Der Anruf kam mitten in die Familienidylle: Sonntagnachmittag. Nach den Gottesdiensten und nach einer Tauffeier nun gemütliches Zusammensein im Kreise der Familie. "Hast du Zeit, um mit auf die Autobahn zu kommen?" - das war keine Frage, das war eine Bitte. 

Verkehrsunfall auf der Autobahn: Eine Tote, eine Schwerverletzte, ein Leichtverletzter und einer, der auf wunderbare Weise gar nichts abbekommen hat. Und dann noch die Verursacher: Keiner weiß, wie es passiert ist, aber innerhalb von Sekunden wurde ein junges Leben ausgelöscht. Ein dummer, schrecklicher Unfall.

Drei Notfallseelsorger im Einsatz: Meine Kollegen bleiben bei der Polizei. Kümmern sich um die Verursacher und die Ersthelfer vor Ort.

Ich fahre mit der Polizei ins Krankenhaus. Heimvorteil: Ich kenne die Notaufnahme durch den Rettungsdienst, kenne mich auch einigermaßen in der Klinik aus. Vieles ist mir vertraut, viele Gesichter sind mir bekannt. Und zum Glück treffe ich dort die Notärztin, von der ich insgeheim hoffte, dass sie an diesem Nachmittag Dienst hat. Ein Segen in weiß.

Meine Aufgabe an diesem Tag: Immer wieder eine Todesnachricht überbringen. Zuerst dem Bruder sagen, dass die Schwester den Unfall nicht überlebt hat. Dann dem Vater, dass seine Tochter tot ist. Und mittendrin die Polizei, die selbst im Krankenhaus Fragen stellen muss.

Die Familie kommt nicht von hier, wohnt im Süden Deutschlands. Sie haben Verwandte im Ruhrgebiet besucht und waren nun auf dem Weg nachhause. Die Tochter hatte sich erst vor kurzem verlobt. Der Schmerz über ihren Tod ist unermesslich. Der Vater, ein gestandener Mann, lässt seiner Trauer freien Lauf. Auch der Sohn ist fassungslos. 
Und doch geht jeder seinen eigenen Weg: Dann wird Notfallseelsorge ganz profan. Nicht das helfende Wort ist jetzt nötig, sondern die Suche nach einer Zigarette, der Gang vor die Tür, wo man einfach schweigend nebeneinander steht während einer raucht.  Das wird an diesem Tag zu einem meiner Hauptdienste. Ich bin ständig in Bewegung. In die Notaufnahme, zum Eingang, zur Station, nach draußen und wieder zurück. 

Der Unfall entwickelt eine ganz eigene Dynamik: Die Familie hat einen Migrationshintergrund. Dritte Generation, islamisch, in Deutschland angekommen und zuhause. Kultursensible Notfallseelsorge ist gefragt: Muslime haben eine ganz andere Bestattungskultur, andere Riten und vor allem andere Zeitabläufe.

Und in ihrer Kultur ist das soziale Netz weit und dicht gespannt: Noch während wir in der Klinik im kleinen Kreis tastend erste Schritte in der Trauer gehen, setzt sich im Hintergrund die Verwandtschaft in Bewegung. Irgendwann im Laufe des Abends werden sie aus Nord- und Süddeutschland eintreffen. Keiner weiß so recht, wer kommt und wie viele kommen. Die Reaktion ist verständlich: Wer von uns würde nicht alles stehen und fallen lassen, wenn irgendjemand in der Familie oder im engen Freundeskreis ein solches Unglück widerfährt? 

Und doch muss man sich vorbereiten: Wer kommt da? Wie viele? Wo sollen die übernachten? Was geschieht, wenn plötzlich zehn bis fünfzehn Menschen mit einem ganz eigenen kulturellen Hintergrund und einer eigenen Sprache zusammen kommen? Voller Trauer in einem viel zu kleinen Zimmer.

Die Stunden vergehen. Diese Zeit bis zum Eintreffen der Verwandten gibt uns Zeit für behutsame Gespräche. Mal ganz profan über den Beruf, die Familie, über die Kultur und die Sprache, über den bloßen Alltag. Und dazwischen immer wieder der Schmerz, die Tränen und die Trauer. Wie auf einer Achterbahn geht es auf und ab. Seelsorge wird zur Wegbegleitung in wörtlichster Bedeutung: Im Laufen durch das Krankenhaus löst sich was, kommt auch Bewegung in die Seele. Und manchmal ist es wichtig, einfach stehen zu bleiben und zu schweigen.

Am Abend kommen die ersten Verwandten. Ich versuche, die Todesnachricht behutsam zu überbringen. Aber das ist utopisch - wie kann man überhaupt behutsam vom plötzlichen Tod eines Menschen sprechen? Für mich ist die verstorbene junge Frau fremd. Nun stehe ich der Familie gegenüber, den Menschen, die sie aufwachsen sahen und die sie liebevoll behüteten. Und die sie jetzt doch plötzlich und unerwartet auf so grausame Weise verloren haben. Verständlich, dass der Schmerz und die Trauer ihren Raum fordern. Auch laut und heftig. Nicht ganz unproblematisch in einem Krankenhaus, wo noch andere Patienten liegen, die vor allem abends Ruhe brauchen. 
Irgendwann stehe ich vor dem Eingang der Klinik, um die ankommenden Verwandten abzufangen. Wir suchen einen Ort, wo laut getrauert werden kann, damit wir dann so weit es geht auf der Station Ruhe finden.
Bis zum späten Abend hat sich das Zimmer gefüllt: Vierzehn Personen sind gekommen, alle in einem Raum. Die Stimmung schwankt zwischen Trauer und aufbrausender Aggression: Auch das ist unserer Kultur fremd, wenngleich auch verständlich. Der Blick richtet sich auch auf den Verursacher des Leids. 

Jeder im Raum hat seine ganz eigene Geschichte: Da ist mittendrin und fast allein der Verlobte mit seiner Mutter. Er trauert um die verlorene Braut, sie um die Schwiegertochter, aber auch für ihren Sohn. Da ist der Bruder, der mit seiner Schwester schon manche schwierige Lebenssituation gemeistert hat, mit ihr gemeinsam eine Firma gründete und nun nicht weiß, wie es weiter gehen soll. Da sind Cousins, Freunde, Tanten, Onkel. Immer wieder knüpfe ich bei den verschiedenen Personen an, manchmal reicht ein Blick, ein Wort, eine sanfte Berührung an der Schulter. Ich werde zum Vermittler zwischen den Trauernden und den Krankenschwestern, zum Anwalt zweier Kulturen und ihrer unterschiedlichen Lebensweisen.
Am späten Abend finden wir einen Kompromiss: Gegen Mitternacht zieht sich der größte Teil der Angehörigen in einen Wartebereich zurück. Nur ein Onkel bleibt beim Vater und seinem Sohn.

Zehn Stunden sind seit der Alarmierung vergangen. Irgendwann mittendrin fragte mich die Ärztin, wie es mir geht und besorgte mir einen Kaffee. Es sind solche kleinen Gesten, die auch Notfallseelsorger gut tun.
Am Ende habe ich mich von der Familie verabschiedet. Irgendwann im Laufe des Abends hat jemand auf mein Collarhemd gezeigt und mich gefragt: "Sie sind von der Kirche?" Da war kein Misstrauen, keine Ablehnung, sondern sehr viel Respekt zu spüren. Als ich mich nun verabschiedete, sagte ich: "Ich bin kein Moslem, sondern Christ, aber ich frage Sie trotzdem,ob ich für Sie beten darf." Ich hatte mir diese Frage lange vorher überlegt. Die Antwort war überwältigend: Der Vater nahm meine Hand, hat sich unter Tränen bei mir bedankt. Sein Händedruck und sein Blick sagten mehr als Worte hätten sagen können.

Ich habe viel gelernt: Über diese andere Kultur, über Hierarchien innerhalb einer weit verzweigten Familie, über ihre Riten, Gesten und unausgesprochenen Regeln. Ich habe gelernt, dass auch Leid über alle Grenzen hinweg verbindet. Und über meine Vorurteile.

Draußen auf dem Flur begegne ich noch einmal der Ärztin. Sie hat einen langen Tag hinter und wohl noch eine lange Nacht vor sich. Es war auch ihr Einsatz: Immer wieder hat sie nach ihrem Patienten geschaut, immer wieder haben wir uns zwischendrin über die nächsten Schritte abgesprochen. Immer wieder sind wir uns auf dem Flur begegnet. Aber am meisten bleibt mir dieser Kaffee in Erinnerung: Eine Tasse Seelsorge für den Seelsorger. Hat gut getan.









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